Bob Dylan: Saving Grace

Saving Grace erschien 1980 auf der B-Seite des Albums Saved, das als zweites Album von Bob Dylans „Christlicher Trilogie“ bezeichnet wird. (Das erste Album der Trilogie war Slow Train Coming von 1979, das dritte Shot of Love von 1981.)

If you find it in Your heart, can I be forgiven?
Guess I owe you some kind of apology.

Wer spricht hier mit wem? Spricht er mit einem anderen Menschen oder mit seinem eigenen Inneren, dem unsterblichen Wesen, das aus dem langen Schlaf erwachen will?

Dem Tod entronnen

I’ve escaped death so many times,
I know I’m only living
By the saving grace that’s over me.

Er ist dem Tod so oft entronnen – das mag sich auf Dylans eigenes, nicht gerade langweiliges Leben beziehen, seinen schweren Motorradunfall 1966, vielleicht die Drogenerfahrungen, den frühen Tod vieler Musiker seiner Zeit (zum Beispiel Jimi Hendrix, Jim Morrison, Janis Joplin, Bob Marley, um nur einige zu nennen). Es könnte sich auch auf viel längere Zeiträume beziehen, auf den Kreislauf der Inkarnationen. Der Kern der Ewigkeit in ihm hat all diese Zeit geduldig gewartet, bis ein Mensch inkarniert, der seine Stimme erhört. Vielleicht entschuldigte er sich dafür, so lange gebraucht zu haben, um diese Stimme zu verstehen?

By this time I’d a-thought I would be sleeping
In a pine box for all eternity.
My faith keeps me alive, but I still be weeping
For the saving grace that’s over me.

Der mystische Tod

Er hat erkannt, dass es nicht seine eigenen Fähigkeiten sind, die ihn retten können – nur Glaube und die Gnade, die er erfährt.

Well, the death of life, then come the resurrection,
Wherever I am welcome is where I’ll be.
I put all my confidence in Him, my sole protection
Is the saving grace that’s over me.

Es geht um einen Sterbeprozess – nicht den physischen Tod, sondern den „mystischen“ Tod, den Tod des Egos. So entsteht Raum für die Auferstehung des Anderen. Er vertraut sich ganz der Gnade an.

Licht und Liebe – aber auf welcher Ebene des Seins?

Well, the devil’s shining light, it can be most blinding,
But to search for love, that ain’t no more than vanity.
As I look around this world all that I’m finding
Is the saving grace that’s over me.

Die Seele sehnt sich nach dem Licht – dabei benötigt sie ein gutes Unterscheidungsvermögen, denn es gibt genügend Kräfte, die das erlösende Licht imitieren. Nach irdischer Liebe zu haschen ist nur Eitelkeit. Das höchste, das in dieser Lebenssphäre zu finden ist, ist die Gnade, die den Urkern berührt und nährt.

Frieden als authentischer Seinszustand

The wicked know no peace and you just can’t fake it,

Der tiefe Frieden, der aus dieser Berührung entspringt, kann nicht imitiert werden – er ist ein Seinszustand, erreichbar nur mit aufrichtiger Hingabe des ganzen Wesens.

Unterschiedliche Arten, die Bibel zu lesen

There’s only one road and it leads to Calvary.
It gets discouraging at times, but I know I’ll make it
By the saving grace that’s over me.

Man kann die Bibel auf unterschiedliche Arten lesen: zum Beispiel als historischen Bericht oder als Sammlung von Hinweisen zu einer ethischen Lebensführung. Dylans Verweis auf Golgatha (den Kalvarienberg) passt zur gnostischen Lesart: es geht darum, die Stationen der Bibel im eigenen Leben zu verwirklichen. Alle Handelnden sind demnach Aspekte des eigenen Wesens: Johannes als Persönlichkeit, die die Pfade recht macht, Jesus als die neue Seele, die Johannes entgegenkommt und schließlich die Führung des Lebens übernimmt, und Christus als die Seele, die sich mit dem Geist verbunden hat. Golgatha ist die Schädelstätte: es genügt nicht, die neuen Kräfte mit dem Herzen aufzunehmen, sie müssen auch im eigenen Wesen wirksam werden und schließlich ins Haupt aufsteigen, sodass sich der Geist mit ihnen verbinden kann.

Bob Dylan: Saved

Chronicles Volume one: Die Autobiografie

Zur Übersichtsseite: Spirituelle Interpretationen von Rock- und Popsongs

Recent Related Posts