Alles ist aus dem Lot: Das magische Kästchen in Meyrinks „Der Engel vom westlichen Fenster“

Es ist ein besonderer Moment im Leben: Ein Sucher findet den für ihn passenden Weg, er wird vom Höchsten berührt und sieht die Bergesspitze mit klarem Blick deutlich vor sich. Wenn er sich an den Aufstieg wagt, wird diese Klarheit zwischenzeitlich verloren gehen, er wird Nebel durchdringen müssen. Doch die Magie des Anfangs (siehe Hermann Hesse: „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“, heißt es im Anhang des Glasperlenspiels) gibt ihm Kraft. Schöne Bilder für die innere Bergbesteigung fand Mikhail Naimy im Buch des Mirdad.

Die Magie des Anfangs

Die Klarheit der ersten Berührung bringt es mit sich, dass der Sucher sein Leben in neuem Licht sieht. Das bedeutet neben aller Freude auch die Erkenntnis, dass vieles „schief“ liegt, dass er einiges zu ordnen und zu korrigieren hat, um dem inneren Auftrag zu folgen. Der Impuls ruft ihn zu höherem Leben, das anderen Gesetzen unterliegt als sein bisheriges.

Gustav Meyrink ca. 1886
Gustav Meyrink ca. 1886; Quelle: Wikimedia Commons

Gustav Meyrinks Einweihungsroman Der Engel vom westlichen Fenster gehört zu den Werken, die mit dem Sucher wachsen: man kann sie nach neuen Erfahrungen mit neuen Augen lesen. Für die Magie des Anfangs findet Meyrink ein eindrückliches Bild mit einem silbernen Kästchen, das er als Geschenk erhält. Man kann es als materielles Bild für den inneren Auftrag sehen, der der Hauptfigur in einem bestimmten Moment bewusst wird. Es fordert eine klare Ausrichtung im Meridian: einen Fokus des gesamten Lebens auf das höchste Ziel. Mit dem Kästchen erhält er einen Brief (Ausgabe Langen Müller Verlag S. 44):

Offenbar hat der alte Silberkasten das Bedürfnis, mit dem Meridian parallel zu stehen, und fühlt sich in dieser Lage am wohlsten. Tun Sie ihm also möglichst den Gefallen! Das mag einigermaßen verrückt klingen, entschuldigen Sie, […]

Es ist Ihnen übrigens bekannt, dass das erwähnte chinesische Wellenband auf dem Tulakasten das alte, taoistische Symbol der Unendlichkeit, in gewissen Fällen sogar das der Ewigkeit bedeutet? […]“

Im Folgenden wird dem Kandidaten bewusst, dass er den neuen Kurs mit seinem alten Willen nicht bestimmen kann – er muss sich der inneren Führung anvertrauen. Das schmeckt nicht allen Anteilen seiner Persönlichkeit …

[…] Ich bin gezwungen, meinen Kompaß hervorzukramen und umständlich den Meridianverlauf festzustellen: – natürlich steht mein Schreibtisch verquer. Dieses brave Möbel, so ehrwürdig es ist, hat sich noch niemals zu dem Anspruch aufgeschwungen, im Meridian stehen zu müssen, weil das zu seinem Wohlbefinden erforderlich sei!

Wie anmaßlich ist im geheimen doch alles, was aus dem Osten kommt! – – – – Ich habe das Tulakästchen also in den Meridian gerückt. – Und da gibt es noch Narren – ich zum Beispiel -, die behaupten, der Mensch sei Herr über seinen Willen! – Was aber ist die Folge meiner Gutmütigkeit? Alles auf dem Schreibtisch, dieser selbst, das ganze Zimmer mitsamt seiner ihm innewohnenden vertrauten Ordnung, alles, alles kommt mir jetzt schief vor; der wertgeschätzte Meridian und nicht mehr ich scheint tonangebend zu sein! – Oder der Tulakasten. Alles steht, liegt, hängt schief, schief schief zu dem dem verdammten Produkt aus Asien! Ich schaue vom Schreibtisch aus zum Fenster hinaus, und was sehe ich? Die ganze Gegend draußen steht – „schief“.

Das wird auf die Dauer so nicht weitergehen; Unordnung macht mich nervös. Entweder das Kästchen muss vom Schreibtisch verschwinden, oder – – um Gottes willen! – ich kann doch nicht meine ganze Wohnung umstellen im Verhältnis zu diesem Ding und seinem Meridian!!

Ich sitze, starre den silbernen Tulakobold an und seufze: Es ist – bei St. Patricks Loch! – nicht anders: das Kästchen ist „geordnet“, es hat „Richtung“; und mein Schreibtisch, mein Zimmer, meine ganze Existenz liegt planlos drum herum, – hat keine sinnvolle Orientierung, und ich habe das bis heute nicht gewusst! – – Aber das ist ja Gedankenquälerei!

Gefordert ist eine radikale Neuorientierung, eine konsequente Ausrichtung. Es genügt nicht, mystisch in der Berührung zu schwelgen. Das erinnert an Bob Dylans Love in Vain.

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Gustav Meyrink: Der Engel vom westlichen Fenster

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