„Auge um Auge, Zahn um Zahn“ aus spiritueller Sicht

Viele modern denkende Menschen halten das Alte Testament für nicht (mehr) zeitgemäß. Sei es, weil sie sich von traditionellen Religionen und ihren Zeugnissen abwenden, oder sei es, weil es das Neue Testament gibt. Während das Alte mit Rache und Brutalität assoziiert wird, steht das Neue für die Liebe.

Klassische Zitate zu dieser Sichtweise lauten:

  • Altes Testament: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“
  • Neues Testament:
    „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Markus 12, 28-34) oder
    „Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Bösen, sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar.“ (Matthäus 5, 39)

Anna Martens‘ spirituelle Perspektive auf „Aug um Aug“

In Anna Martens‘ „Das große Gesetz“ findet sich eine spirituelle Auslegung zu dieser bekannten Stelle aus dem Zweiten Buch Mose:

„Aug um Aug, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß“

Es ist der materielle Rechtsbegriff, der auch heute noch Gleiches mit Gleichem vergelten lässt; manche primitiven Geister stellen sich darunter regelrechte Raufereien vor, wobei es blaue Augen und ausgeschlagene Zähne absetzt. Und das alles soll ein Herrgott sanktioniert haben; dass außerdem eine wörtliche Anwendung dieser Worte dem biologischen Gewissen geradezu den Garaus macht, fällt nicht weiter auf.

Auch bei dieser so zahllos und vielfach missbrauchten Gesetzesformel handelt es sich um wichtige Lebensregeln. Man könnte sie zusammenfassen in die Worte des Dichters: „Du gleichst dem Geist, den du begreifst.“

„Aug um Aug!“
Das Auge ist das Werkzeug zum Sehen. Sehen bedeutet unterscheiden, erkennen. Die Formel heißt: Das Leben gibt dir soviel als du erkennst und unterscheidest.

„Zahn um Zahn!“
Die Zähne sind das Symbol der Widerstandskraft. Soviel Widerstand der Mensch leistet, soviel Widerstand kann er überwinden.

„Hand um Hand!“
Die Hand ist das ausführende Werkzeug des Geistes. Sie ist somit das Symbol der schöpferischen Verwirklichung. Soviel als der Mensch zu verwirklichen vermag, wird ihm an Lebenserfüllung zuteil.

„Fuß um Fuß!“
Die Füße sind, wie in der Josephsgeschichte erörtert, Symbole der unbewussten Ordnung und Zeugung. Diese erfolgt auf Grund einer wachen Seele und innerer Bereitschaft. So weit wie dies der Fall ist, erfolgt die Einsaat des universellen Lebens in das Unbewusstsein.

Ferner heißt es noch: „Brand um Brand, Wunde um Wunde, Beule um Beule“
Beim „Brand“ denkt man selbstverständlich an Brandlegung und stellt sich eine göttliche Gerechtigkeit darunter vor, dass dem Brandleger ebenfalls ein Feuer gelegt wird. Dem stehen nun die bürgerlichen Gesetze entgegen, sodass sich dadurch das Paradoxon ergibt, dass die göttlichen Unterweisungen im irdischen Leben praktisch nicht erfüllt werden können. Wäre es wirklich so, dann müssten solche auf Schritt und Tritt sich zeigende „Unausführbarkeiten“ das ganze göttliche Lebensgebäude zum Einsturz bringen, wie es für viele Menschen auch der Fall geworden ist.

„Brand um Brand“ hat mit einem Racheakt nicht das Geringste zu tun. Der Brand ist das Sinnbild des geistigen Feuers, welches das Leben selbst entfacht. Wer am Feuer des Lebens seine Begeisterung, seine Liebe, seine Freude, sein Schöpfertum entzünden kann, erhält vom Lebensfeuer seiner Mitwelt den entsprechenden Anteil.

„Wunde um Wunde!“
Die Wunde ist eine Öffnung des Körpers. Die Öffnung führt in das bisher Verborgene. Das Gleichnis der „Wunde“ will den Vorgang der Offenbarung der inneren Eigenschaften zeigen. – Der Schlüssel ist: Man erkennt mit Hilfe seiner Seele die Seele des anderen.

„Beule um Beule!“
Es ist nicht eine Beule, die einer dem anderen auf göttliches Geheiß an den Schädel zu schlagen sich berechtigt glaubt, sondern ein Zeichen sich regenden Lebens. Bevor im Frühjahr die Knospen springen, haben sich bereits im Winter Ausbuchtungen – Beulen – gebildet, in welchen das junge Leben dem erwachenden Lenz entgegen drängt. Die werdende Mutter und die milchbergenden Brüste sind ebenfalls solche nach außen gebuchteten Lebenserscheinungen. Auch an der Stirn eines Menschen, in welchem besondere Fähigkeiten tätig sind, kann man solche Ausbuchtungen wahrnehmen. Das Gleichnisbild heißt daher: Soviel wie sich Leben im Menschen regt, soviel wird ihm auch Auftrieb von seiner Umwelt gegeben.

Anna Martens, Das Große Gesetz, S. 288f.

Altes und Neues Testament im Vergleich: „Auge um Auge“

Anna Martens beschließt das Thema mit einem Ausblick aufs Neue Testament:

Das Neue Testament hat für die alttestamentarischen Klauseln eine klarere und weniger gefährliche Definition; es heißt einfach:

„Mit dem Maß, wie du messest, wirst auch du gemessen werden.“

Allerdings wendet sich diese Normierung an Menschen, die ihr Bewusstsein und ihren Willen bereits entwickelt haben und sich daher im Besitze einer freien Entscheidungsfähigkeit befinden. Die alttestamentarischen Formeln haben diese Voraussetzung noch nicht und stellen auf ein vollkommen mechanisches Erleben, wie es auch allen Geschöpfen der unteren Reiche möglich ist, ab; dabei ist nicht Erkenntnis und der Entwicklungswille, sondern der automatische Austausch auf Grund des Impulses und der ihm folgenden Reaktion maßgeblich. Wendet man diese Formeln, wie es geschieht, auf Menschen einer zivilisierten Zeitepoche an, dann werden diese auf ein längst überwunden sein sollendes Vorstadium ihrer Entwicklung zurückgedrängt.

Anna Martens, Das Große Gesetz, S. 290

Zum Buch: Anna Martens – Das große Gesetz

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