Spirituelle Liebeslieder: Bob Dylans Love in Vain

Liebeslieder sind besonders dafür prädestiniert, auf unterschiedlichen Ebenen verstanden zu werden – von erotischen Bezügen über die Sehnsucht nach einem Gefährten bis hin zu seelisch-geistigen Prozessen, die sich der irdischen Liebe nur als Bild, als Analogie bedienen. Solche Anklänge fanden sich bereits in der Tradition des Minnesanges und bestimmt auch lange davor.

Bob Dylan auf der Bühne des Azkena Rock-Festivals in Victoria-Gasteiz

Bob Dylan auf der Bühne des Azkena Rock-Festivals in Victoria-Gasteiz; Urheber: „Alberto Cabello from Vitoria Gasteiz“; Wikimedia Commons

In diesem Beitrag möchte ich mich einem Werk von Bob Dylan widmen, wenige Tage nach dessen 75. Geburtstag. Anders als viele früh verstorbene Zeitgenossen war und ist es Bob Dylan vergönnt, ein erstaunliches Alterswerk zu entwickeln. Ein Aspekt davon wurde übrigens in Sachsen erstmals gewürdigt: Zwischen Oktober 2007 und Ostern 2008 stellte Bob Dylan Aquarelle und Gouachen der Drawn Blank Series in Chemnitz aus. Idee und Initiative kamen von der Generaldirektorin der Kunstsammlungen Chemnitz, Ingrid Mössinger.

Heute geht es um den Song Love in Vain vom Album Street Legal (1978), das in wenigen Tagen zwischen Tourneeauftritten in Japan und Europa aufgenommen wurde und bei vielen Kritikern nicht gut ankam.

Die folgende Coverversion der polnischen Musiker Stanisław Sojka und Janusz Iwański alias Yanina finde ich besonders eingängig:

Man kann den Text als bange Frage verstehen, ob der Partner den Sprecher wirklich liebt, ob die Beziehung eine Zukunft hat, ob es sich lohnt, sich auf einander einzulassen. Immerhin warnt die Stimme der Erfahrung nicht ganz zu Unrecht vor Enttäuschungen.

Versuch einer spirituellen Annäherung an Love in Vain

Wie kann man den Text auf einer spirituellen Ebene verstehen? Der Sprecher könnte die Stimme aus dem Innersten sein, das Juwel im Lotos der Buddhisten, die Rosenknospe der Rosenkreuzer. Sie fragt den Menschen, der sie durch die Welt trägt: Bist Du derjenige, der mir hilft, in meine wahre Heimat zurückzukehren? Der Adressat ist sich dieser Stimme bewusst, er kann sie hören, das heißt er ist ein Sucher, der durch eigene Erfahrungen und Erfahrungen seiner Vorgänger reif geworden ist für den Weg der Seele.

Diese Sensibilität, diese Empfindsamkeit bringen viele Menschen mit. Doch es genügt nicht, die Stimme zu vernehmen. Es geht darum, ihr nicht nur Gehör zu schenken, sondern ihr Raum zu geben, sich ihr unterzuordnen, ihren Impulsen konsequent zu folgen, sie höher zu achten als alles Irdische.

Die Stimme aus dem Innersten ist unsterblich, doch ist sie an sterbliche Menschen gebunden und auf ihre Hilfe angewiesen. Mit vielen Menschen, den karmischen Vorgängern des Adressaten, war sie schon verbunden, manche mögen ihren Ruf vernommen haben, doch keiner ist ihr so weit gefolgt, dass sie von allen irdischen Bindungen frei wurde – sie musste ihre Hoffnungen immer wieder auf die nächste Inkarnation übertragen. Und so fragt sie wieder, ob der jetzige Träger es ernst meint: Will I be able to count on you, or is your love in vain? Hast Du erkannt, dass es nur einen Ausweg aus der Welt der Gegensätze gibt? Der Satz Do you need me half as bad as you say, or are you just feeling guilt? erinnert an den Lehrer, der den Schüler im Fluss unter Wasser drückt. Beim Auftauchen sagt er: Wenn Du die Befreiung Deines Seelenkerns so dringend mit jeder Faser Deines Wesens ersehnst wie die Luft, die Dir unter Wasser knapp wurde, dann ist Dein Verlangen rein und stark genug.

Die dritte Strophe: Erfahrungsreife

Die dritte, mittlere Strophe könnte eine Antwort der irdischen Persönlichkeit auf den Ruf der Seele sein. Wonach suche ich wirklich? Bin ich bereit, der Stimme zu folgen, die mich in unbekanntes Terrain führt? Der Sucher macht sich seine Erfahrungen bewusst: er hat die Gegensätze kennen gelernt, Berge und Wind, Glück und Unglück:

Well I’ve been to the mountain and I’ve been in the wind
I’ve been in and out of happiness …

… auch großen Reichtum durfte er erleben, die Welt lag ihm zu Füßen – I have dined with kings, I’ve been offered wings – doch nichts davon konnte ihn nachhaltig beeindrucken – And I’ve never been too impressed. Das Streben nach irdischem Glück lohnt nicht – es ist vergänglich. Der Lebenssinn muss auf einer anderen Ebene liegen, unvergänglich sein, unsterblich und damit nicht mit irdischen Händen greifbar.

Das Gleichnis vom reichen Jüngling

Der Song entstand kurz vor Dylans Konversion zum christlichen Glauben (1979); Bibelzitate waren jedoch schon lange Teil der Folk-Traditionen, aus denen Dylan schöpfte. Are you willing to risk it all / Or is you love in vain? erinnert an den reichen Jüngling, der Jesus verehrte, aber nicht bereit war, wirklich alles zu verkaufen, was er hatte, um Jesus nachzufolgen.

Von welcher Welt zeugt die Stimme aus dem Innersten?

Wer sich seinem göttlichen Kern anvertraut, muss die engen Grenzen seiner eigenen Möglichkeiten erkennen und wird dadurch demütig. So wächst die Bereitschaft, loszulassen. Kennst Du die Geheimnisse des Lebens? fragt die Stimme. Kannst Du kochen und nähen, kannst Du auch Blumen wachsen lassen? Verstehst Du meinen Schmerz, an die Materie und an Dein Wesen gebunden zu sein?

Can you cook and sew, make flowers grow
Do you understand my pain?

Verhöhnt Dylan mit den Verweisen aufs Kochen und Nähen den Feminismus? Für mich geht es hier um den Gegensatz zwischen Tätigkeiten, die der Mensch kontrollieren kann (Kochen, Nähen) und dem Wirken höherer Kräfte, die der Mensch nicht kontrollieren kann (Blumen wachsen lassen). Wir können zwar gärtnern, aber die Kraft, mit der der Same sich entfaltet, beherrschen wir nicht. Wir können nur Bedingungen schaffen, unter denen die Lebenskraft wirken kann.

Der Seelenkern benötigt Nahrung, um zu wachsen: Unirdisch-feinstoffliche Kräfte aus dem ursprünglichen Lebensfeld. Diese Kräfte sind zwar überall vorhanden, doch sie erreichen den göttlichen Kern nur, wenn der Mensch sie durch ein gereinigtes Herz einlässt. So kann man das Kochen als das Zubereiten der Nahrung für den Seelenkern deuten und das Nähen als das Herstellen des Seelengewandes. Vergleiche dazu die Beiträge zu Scarborough Fair. Siehe auch die „besten Kleider“ bei Harry Styles‘ Sign of the Times.

„Sich öffnen“ und „zulassen“

Die beiden Forderungen „Öffne Dich [für höhere Kräfte]“ und „Lass (es) zu [dass Du von ihnen verwandelt wirst]“ empfand ich lange Zeit als sprachlich widersprüchlich. Wie kann ich mich gleichzeitig öffnen und dabei etwas zu lassen? Was denn nun, aufmachen oder zulassen?

Es ist einleuchtend, dass ein Mensch sich öffnen muss, will er höhere Kräfte in sich einlassen. Wer sein Herz verschließt, kann sich gut abschotten vor Liebe und dem Empfinden der Verbundenheit mit allem Leben. Doch das Zulassen hat auch seinen Platz auf dem spirituellen Weg: als Geschehen-Lassen, als Nicht-kontrollieren-wollen. Einem frisch gepflanzten Samen wird es nicht gut bekommen, wenn ich ihn gleich wieder ausgrabe, weil ich sehen will, ob schon etwas daraus entsprossen ist. Der Seelenkern benötigt Stille – nicht (nur) im Sinne von Abwesenheit von Lärm, sondern vor allem als Zur-Ruhe-Kommen des gesamten Wesens, der Gedanken, des Wollens, des Begehrens und des Handelns. Ein spiritueller Mensch kann dabei durchaus äußerlich aktiv sein – aber er wird sich von inneren Bewegtheiten verabschieden, von Hoffen und Bangen, von Kämpfen und Streiten, von persönlichem Ehrgeiz.

Are you so fast that you cannot see that I must have solitude?
When I am in the darkness, why do you intrude?

So entsteht ein stiller Raum, in dem der Seelenkern wachsen kann. Der Mensch, der einen wachsenden Seelenkern in sich trägt, wird zu gegebener Zeit etwas von den Impulsen verstehen, die von ihm ausgehen – und er wird endlich alle Versuche einstellen, diese Impulse im äußeren Leben abzureagieren.

Do you know my world, do you know my kind
Or must I explain ?
Will you let me be myself
Or is your love in vain?

Street-Legal
Bob Dylan
Die Stimmen aus der Unterwelt: Bob Dylans Mysterienspiele

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