Bewusstsein über ein Leben hinaus: Bob Dylan, Like a Rolling Stone

Lange habe ich mich gefragt, worin eigentlich die Faszination von Bob Dylan-Songs liegt. Mit Anfang 20 hatte ich selbst ab und an mehr schlecht als recht Lagerfeuer-Songs auf dem „Wimmerholz“ (Wolf Biermann) geschrammelt. Darunter waren einige Dylan-Songs, zum Beispiel It’s All Over Now, Baby Blue (Bringing It All Back Home, 1965). Mir ging es wie so vielen: ich verstand den Song zwar nicht, fühlte ihn aber fast wie etwas Magisches.

An das monumentale Like a Rolling Stone (Highway 61 Revisited, 1965) wagte ich mich selbst nicht heran, aber mir liefen Schauder den Rücken hinunter, wenn ich es hörte – so sehr traf es etwas tief in mir.

Heute sehe ich es so: Bob Dylan besitzt die selten erreichte Fähigkeit, ein tief im Menschen verborgenes Wissen anzusprechen, das nicht aus den Erfahrungen des aktuellen Lebens erklärt werden kann. Ich glaube, wir tragen die Erfahrungen vieler Leben mit uns – in aller Regel nicht mit konkreten Details, aber als Essenz. Zum Beispiel wissen manche Menschen ganz genau, dass sie sich, wie tragisch ihr Leben auch verläuft, niemals selbst töten dürfen. Der unsterbliche Teil ihres Wesens hat das schon (mindestens) ein Mal durchgemacht; sie wissen intuitiv, dass sie so ihrem Leiden nicht entkommen können. Sie müssen es annehmen und in diesem Leben so gut wie möglich damit umgehen.

So geht es mir mit Like a Rolling Stone: der Geschichte eines Menschen, vermutlich einer Frau, die ganz oben war und alles verloren hat. Anders als bei vielen anderen populären Songs gibt es hier keinen Trost, kein Happy End, keine Relativierung und keine Beschwichtigung – nur ein immer tieferes Eindringen in dieses ur-menschliche Gefühl. Wie konnte mich das schon als Teenager so treffen? Ich wuchs wohl behütet auf und kenne das Empfinden sicher nicht aus diesem Leben – und doch konnte ich unmittelbar daran anschließen. Offenbar ging es vielen anderen auch so. Das Rolling Stone Magazine listete den Song 2004 und 2010 als Nummer 1 der Top 500 Songs. In den überarbeiteten Listen 2021 und 2024 „stürzt“ der Song ab und liegt „nur noch“ auf Rang 4.

Bruce Springsteen über Like a Rolling Stone

Bruce Springsteen beschrieb die Erfahrung als 15-Jähriger wie einen Trommelschlag, der die Tür zu seinem Bewusstsein aufstieß. So wie Elvis Presley den Körper befreit habe, habe Dylan das Bewusstsein befreit. Da kam einer, der es mit der ganzen Welt aufnahm, und er gab ihm, Bruce, das Gefühl, das auch zu können.

Wolfgang Niedecken über Bob Dylan – Like a Rolling Stone

Wolfgang Niedecken, Gründer der Kölschrock-Band BAP, beschrieb den Song, den er ebenfalls mit 15 Jahren hörte, als Erweckungserlebnis.

„Das hat mich wirklich wie ein Blitz getroffen. Das war so unfassbar anders als alles, was ich bis dahin kannte.“
„Like A Rolling Stone habe ich ausgesucht [als Nr. 1 auf die Frage nach sieben Lieblingsliedern, WR], weil dieser Song mein Leben verändert hat. Von dem Moment an, wo ich dieses Meisterwerk gehört habe, war nichts mehr wie vorher. Ich habe aufgehört, Bass zu spielen und versucht Lieder zu schreiben.“

Hier eine Version, die mir musikalisch sehr gut gefällt: von den polnischen Musikern Stanisław Soyka und Janusz Iwanski alias „Yanina“ – für die, die nicht so auf Dylans Stimme stehen:

In Lord Protect My Child (aufgenommen für Infidels 1983, aber erst auf The Bootleg Series Volumes 1-3 (Rare & Unreleased) 1961-1991 veröffentlicht) zeugt Dylan von einer Sicht, die weit über ein Menschenleben hinausweist. Er betrachtet den kleinen Jungen, den er von Gott behütet wissen will: gerade erst entfaltet sich seine Jugend, doch er sieht ihn als Jahrhunderte alt.

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