Bob Dylan, Titanic und der Mensch: Tempest

Neulich empfahl ich jemandem einen Dylan-Song, mit dem ich mich kürzlich etwas mehr beschäftigt hatte.
„Hörenswert! Fast 14 Minuten lang, 45 Strophen, über den Untergang der Titanic.“
„??? Warum sollte ich mir das anhören? Warum schreibt jemand so einen Song? Warum sollte das die Zeit wert sein – Dylans Zeit und unsere als Hörer?“

Dylans Tempest: Ballade mit mehreren Interpretations-Ebenen

Typisch für Bob Dylan ist, dass seine Songs auf mehreren Ebenen funktionieren. Das ist auch bei diesem Meisterwerk nicht anders:

  • Selbstverständlich kann man es wörtlich nehmen: eine berührende Geschichte über den Untergang des berühmten Schiffes 1912.
  • Gerade in der heutigen Zeit, in der viele Strukturen zusammenbrechen, kann man den Untergang auch als Sinnbild für die Lage der ganzen Menschheit sehen: Umweltzerstörung; ein Wirtschaftssystem, das auf einer offensichtlich nicht nachhaltigen Wachstumsidee basiert; exponentiell wachsende Schuldenberge; Kriege …

Für mich gibt es jedoch noch eine dritte Ebene, die ich aus spiritueller Sicht besonders spannend finde.

Veröffentlicht wurde Tempest auf dem gleichnamigen Album von 2012 und somit genau 100 Jahre nach dem historischen Ereignis. Dylan war 71 Jahre alt. Ein Musikkritiker schrieb, der Gedanke sei lächerlich, dass dies das letzte Dylan-Album sei: Er sei in Bestform. Tatsächlich erschien 8 Jahre später, mitten in der Pandemie 2020, das herausragende Rough and Rowdy Ways mit neuen Songs, die auch von tiefer Spiritualität zeugen.

Der Fall des Menschen in der Bibel, im Hinduismus und Buddhismus

Viele Weisheitsschriften berichten von einem göttlichen Urzustand des Menschen und wie sich der Mensch davon entfernte. Die Bibel erzählt im Alten Testament vom Paradies als Garten Eden, den der Mensch nach dem Sündenfall verlassen musste. Adam und Eva hatten gegen Gottes Gebot verstoßen, indem sie vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse aßen.

In der Bhagavad Gita, einer heiligen Schrift der Hindus, ist der Fall, das Herausfallen aus der göttlichen Ordnung, nicht im Sinne eines historischen Ereignisses enthalten. Jedoch kann man den Fall als Entfernung des Bewusstseins vom göttlichen Selbst verstehen. So etwa in Kapitel 3, Vers 39:

„Dieses Wissen wird von dem ewigen Feind des Wissenden verhüllt – von der Begierde, die nie gesättigt ist und wie ein loderndes Feuer brennt, oh Kaunteya (Arjuna).“

Im Hinduismus ist der Mensch ursprünglich göttlich. Die wahre menschliche Natur ist das Atman, das mit dem Brahman, dem höchsten Prinzip, identisch ist. Der Fall besteht in der Unwissenheit (Avidya), die dazu führt, dass sich der Mensch mit Körper, Ego und Besitz identifiziert und so in den Kreislauf von Geburt, Tod und Wiedergeburt eintritt.

Auch im Buddhismus lässt sich der Fall als Zustand der Unwissenheit verstehen: der Mensch ist verstrickt in die Illusion eines festen Ichs und täuscht sich über die Wirklichkeit. Aufgrund von Gier, Hass und Verblendung bleibt der Mensch im Kreislauf von Geburt und Tod (Samsara) gefangen.

Der Untergang der Titanic als Bild für den Fall des Menschen

Damit zurück zu Bob Dylan und seinem Song Tempest. Ich habe mich gefragt, warum er mich so stark berührt. Kann ein Ereignis, das über 100 Jahre zurück liegt und zu dem ich keine persönliche und meines Wissens auch keine familiäre oder sonstige direkte Beziehung habe, das auslösen? Ist das Berührt-Sein nur durch Empathie zu erklären?

Wie bei vielen Dylan-Songs habe ich auch hier den Eindruck: Er spricht eine Ebene an, die unmittelbar in mir verankert ist, die in mir lebt, wenn auch dem Tagesbewusstsein verborgen.

Dylan erzählte mal in einem Interview, wie er lernte, sich vom linearen Zeitbegriff zu lösen. Alles ist gleichzeitig anwesend: Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft. Das fasziniert mich. Solange wir in dieser Welt konkret handeln und mit täglichen Aufgaben beschäftigt sind, müssen wir uns an die Gesetze dieser Welt halten, somit auch an die Zeit. Für die unsterbliche Seele in uns spielt jedoch die Zeit keine Rolle. Etwas in uns hat Anteil an der Ewigkeit, dem ewigen Jetzt.

Der Untergang der Titanic, Gravur von Willy Stöwer. Phantasiebild, 1912.
Quelle: Wikimedia Commons
Der Untergang der Titanic, Gravur von Willy Stöwer. Phantasiebild, 1912.
Quelle: Wikimedia Commons

So verstehe ich den Fall des Menschen aus der göttlichen Harmonie nicht als ein Ereignis, das zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit stattfand. Vielmehr glaube ich, der Fall vollzieht sich in jedem Augenblick neu – bis unser Bewusstsein wieder in die Harmonie eintauchen kann und alle Identifikation mit der Getrenntheit, der Gespaltenheit, Halbheit und Unvollkommenheit preisgibt – wie ein Tropfen, der im Meer aufgeht.

Vor diesem Hintergrund verstehe ich Tempest als den Augenblick, in dem der Fall sich vollzieht.

Der Ausgang der Geschichte ist bekannt. Von Anfang des Songs an ist klar: das Schiff wird untergehen. Die Spannung beruht also nicht darauf, dass man herausfinden möchte, was passiert. Vielmehr kann sich der Hörer ganz auf den dramatischen Prozess einlassen. Hier geht es nicht um eine Verkettung unglücklicher Umstände – eher um etwas, das unabweisbar ehernen Gesetzen folgt.

„No change, no sudden wonder
Could undo what had been done“

Keine Veränderung, kein plötzlicher Zauber
Konnte ungeschehen machen, was geschehen war [musste].

Als der Eigenwille im Menschen die Kontrolle übernahm, konnte er sich nicht mehr in der hohen Schwingung der göttlichen Harmonie halten. Der Seinszustand hatte sich entscheidend verändert, und nur ein Erfahrungsweg mit radikaler Läuterung und verinnerlichter Demut führt heraus. Das Bewusstsein im Moment des Falls fand keine Möglichkeit mehr, das Geschehen unmittelbar zu beeinflussen.

Das Schiff als ein menschliches System – ein Mikrokosmos

Aus dieser Perspektive sehe ich das Schiff nicht als Fahrzeug mit vielen verschiedenen Menschen, sondern als ein menschliches System, einen Mikrokosmos. Entsprechend stellen die Figuren auf der Titanic nicht verschiedene Menschen dar, sondern Bewusstseinsaspekte in diesem einen System.

Schritt für Schritt erzählt Dylan von der Zerstörung des Schiffes.

Wasser auf dem Achterdeck – oft der Ort, von wo aus Kommandos gegeben werden. Der fallende Mikrokosmos verliert die Kontrolle, er gleitet in eine ungöttliche Welt der Täuschung und des Todes hinab.

Das Orchester spielt Lieder von verblassender Liebe – der Mikrokosmos entfernt sich aus der All-Liebe Gottes und begibt sich in die Illusion des Eigenwillens, der Abgrenzung, des Egos.

Apokalyptische Bilder: Das Universum öffnet sich, die Engel wenden sich ab, sie können nicht eingreifen. Die ersten toten Körper treiben im doppelwandigen Rumpf der Titanic. Die schöpferischen Vermögen sterben, werden unwirksam. Die Motoren versagen, es gibt Explosionen. Die Harmonie der göttlichen Energien ist empfindlich gestört. Wir können an unserem heutigen Zustand oft erkennen, wie unterschiedliche Aspekte in uns in verschiedene Richtungen ziehen – Kopf gegen Herz, Vernunft gegen Bauchgefühl, Planung gegen Spontaneität – vieles ist chaotisch … Im Zustand göttlicher Harmonie ziehen alle Potenziale im Menschen am gleichen Strang, arbeiten gemeinsam für das gleiche Ziel.

Kristall zerbricht. Kristall kann Reinheit, Klarheit und Wahrheit symbolisieren.

Versuche, das Geschehen aufzuhalten, muten surreal und hilflos an: Alarmglocken können das Wasser nicht aufhalten, verriegelte Luken halten nicht dicht, das polierte Gold der Treppe ist nichts mehr wert.

Die Menschen auf der Titanic als Bewusstseins-Aspekte

Die Bordwache (watchman)

Die ursprüngliche All-Gegenwart, das Anteilhaben an der Schöpfungsfülle, ist nun herabgesunken in einen traumähnlichen Zustand. Etwas im menschlichen System ahnt noch, dass alles in die falsche Richtung läuft, aber es kann nicht mehr bewusst handeln, nicht einmal mehr voll bewusst wahrnehmen. Von der einstigen Macht im Einklang mit dem Schöpfungsplan bleibt nur ein schwacher Rest.

Er versucht gegen Ende des Songs noch jemandem Bescheid zu sagen. Da ist es längst viel zu spät.

In der letzten Strophe träumt er von dem, was sein könnte – ähnlich wie beim Kapitän der Titanic bleibt hier noch ein Rest Erinnerung an das hohe Potenzial des Mikrokosmos bewahrt, der mit hinabsinkt und den Samen für den Rückweg enthält.

Leo

Vielleicht eine Anspielung auf Leonardo di Caprio, der in James Camerons Titanic-Film von 1997 Jack Dawson spielte. Er hört etwas, das nicht sein sollte; sein inneres Selbst empfindet, dass er nicht lange so stehen kann. Das Chaos entfaltet sich mehr und mehr.

Später sagt er zu einer nicht weiter erwähnten Cleo, er befürchte, den Verstand zu verlieren. Doch der Erzähler bemerkt dazu trocken, das sei schon längst geschehen, und viel Verstand war wohl ohnehin nicht da. Vielleicht ein Bild für die Selbstüberschätzung bereits gefallener Bewusstseinsanteile.

Vom Gegeneinander und vom Heldentum

Die Kräfte im Mikrokosmos, die harmonisch zusammenarbeiten sollten, stellen sich nun gegen einander. Beim Untergang entsteht ein Kampf von „Bruder gegen Bruder“, sie schlachten sich gegenseitig ab. Es gibt Verräter und Wendehälse. Der Bordellbetreiber, den Dylan nicht verurteilt, entlässt seine Mädchen und sieht, wie sich seine Welt im steigenden Wasser ändert.

Andererseits gibt es auch Heldentum. Der Bischof versucht zu helfen, er kann sich nur an Gott wenden. Jim Dandy – ein Name, der auf einen herausgeputzten Mann verweist – gibt seinen Platz im Rettungsboot für ein verkrüppeltes Kind auf. Der Mensch, der sich von der göttlichen Sphäre entfernt, ist nicht durchgängig schlecht oder böse. Typisch für unsere gefallene Welt ist vielmehr die Vermischung von Gut und Böse, die Gleichzeitigkeit und der beständige Wechsel zwischen diesen Polen. Neben all der Selbstbezogenheit gibt es auch edle Züge im Menschen, die ihn auf seiner Reise in die Welt der Vergänglichkeit begleiten. Er sieht das Sternenlicht aus dem Osten, das ein Symbol für das Licht sein kann, das den Weg zurück in die Lichtheimat weist. Denken wir zum Beispiel an Jakob Böhmes Aurora oder die Morgenröte im Aufgang. Im Moment des Falls ist es jedoch nicht das klare Sonnenlicht, nur ein blasseres Sternenlicht.

Im Angesicht des Todes findet Jim Dandy Frieden.

Der Kapitän

Recht spät im Song wird der Kapitän erwähnt. Über und unter ihm befinden sich 50.000 Tonnen Stahl. Er sollte die Richtung vorgeben, doch er hat die Kontrolle verloren. Die Kompassnadel zeigt nicht mehr horizontal nach Norden, sondern nach unten – er hat das Rennen um die Titanic verloren. Auch das ein starkes Bild für das gewaltige Geschehen im Mikrokosmos, der seine Vermögen verliert. Der ursprüngliche Mensch war weiblich-männlich in sich selbst, er konnte aus sich selbst heraus schöpferisch wirken. Der heutige Mensch benötigt dazu einen Partner, eine Partnerin, mit der er sich mehr oder weniger gut versteht. Und man stelle sich eine Kleinstadt vor, in der alle Gedanken, alle Wünsche ihrer Bewohner an einem einzigen Abend sofort Wirklichkeit würden. Auch mit den geringen Fähigkeiten, die wir noch haben, richten wir noch mehr als genug Durcheinander an …

Selbst der machtlos gewordene Kapitän erinnert sich noch an das Buch der Offenbarung, die Apokalypse des Johannes aus der Bibel. Sie ist ihm kein Quell der Freude mehr, er füllt seine Tasse mit Tränen. Zumindest nimmt er die Erinnerung an die befreiende Perspektive mit.

Dylans Tempest: Fazit zum Song über den Untergang der Titanic

Dylans 14minütiges Meisterwerk kann, wie sehr viele Dylan-Songs, auf mehreren Ebenen verstanden werden: Wörtlich oder als Symbol für den Zustand der Menschheit. Mich fasziniert vor allem eine spirituelle Sicht, die das Geschehen auf einen Mikrokosmos bezieht, der sich aus der ursprünglichen Harmonie löst und in die Welt der Vergänglichkeit und des Todes eintaucht.

Dylan belässt es jedoch nicht bei der Dramatik des Titanic-Untergangs. An mehreren Stellen ist eine befreiende Aussicht angelegt. So erinnern sich die Bordwache und der Kapitän an den erhabenen Zustand von einst, und neben all dem Chaos und Gegeneinander gibt es auch Heldentum und die Ausrichtung auf das Licht aus dem Osten.

Im Song nicht direkt angesprochen, kann man diese Elemente als Samenkorn sehen, das der Mensch bei seinem Abstieg mitnimmt. Nach Läuterung durch Sehnsucht kann daraus der ursprüngliche Glanz wieder aufkeimen und den Weg zurück weisen.

Deshalb sind die Heiligen Schriften keine willkürliche menschliche Schöpfung, wie etwa der Atheist Ricky Gervais meint, sondern Zeugnisse des Urwissens, das die Menschheit seit dem Fall begleitet.

Jetzt bin ich neugierig: Was bedeutet der Song für Euch?

Zum Album: Tempest (Hinweis: Bezahlter Link)

Über Bob Dylans Spiritualität geben unter anderem seine Interviews Auskunft (bezahlter Link):
Bob Dylan – The Essential Interviews

Übersicht über spirituelle Impulse in der Rock- und Popmusik

Weitere Beiträge zu Bob Dylan

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2 Antworten

  1. Ralf Pörschke sagt:

    Sehr ansprechende Deutung! Ich habe den Titel noch nicht gehört, werde es aber baldigst tun. Bei der Übersetzung „Keine Veränderung, kein plötzlicher Zauber
    Konnte ungeschehen machen, was geschehen war.“ sollte es besser heißen „was geschehen musste“. Und den Watchman würde ich in maritimer Manier als Ausguck oder Bordwache übersetzen. Macht Lust darauf zu hören, wie es auch musikalisch umgesetzt wurde.

Freue mich über Kommentare!