Rainer Maria Rilke: Der Magier

Was geschieht, wenn der göttliche Funken im Menschen, der Andere, nicht nur Potenzial bleibt, Sehnsucht und mehr oder weniger bewusster Antrieb zum Suchen? Was, wenn der Mensch sich ihm anvertraut und sich der Andere daraufhin deutlich bemerkbar macht? Rainer Maria Rilke beschreibt es in Der Magier so (geschrieben in seiner Spätphase zwischen 1922 und 1926):

Er ruft es an. Es schrickt zusamm‘ und steht.
Was steht? Das Andre; alles, was nicht er ist,
wird Wesen. Und das ganze Wesen dreht
ein raschgemachtes Antlitz her, das mehr ist.

Oh Magier, halt aus, halt aus, halt aus!
Schaff Gleichgewicht. Steh ruhig auf der Waage,
damit sie einerseits dich und das Haus
und drüben jenes Angewachsne trage.

Entscheidung fällt. Die Bindung stellt sich her.
Er weiß, der Anruf überwog das Weigern.
Doch sein Gesicht, wie mit gedeckten Zeigern,
hat Mitternacht. Gebunden ist auch er.

Ehrlichkeit und Demut sprechen aus diesen Zeilen. Viele träumen von Erleuchtung und stellen sich ein sehr erhabenes Geschehen vor. Hier klingt es anders: Den Eigenwillen preiszugeben zugunsten des wahren Selbstes ist keine Kleinigkeit. Es ist um vieles leichter, mal eine Berührung zu erfahren, als ihr auch dauerhaft standzuhalten. Der Andere will sich immer bemerkbar machen, er wartet darauf, Raum im Menschen zu erhalten. Doch starke Kräfte im Menschen, subtile und weniger subtile, haben kein Interesse daran – sie möchten den alten, gewohnten Zustand beibehalten. Wäre die Sehnsucht völlig rein und ungetrübt, dann könnte die neue Beseelung sich frei entfalten. Doch der Mensch ist ein Mischgefäß … Hier war die Hingabe stark genug: „Der Anruf überwog das Weigern“.

Freiheit und Verantwortung

Wenn sich alte Muster auflösen dürfen, entsteht Freiheit. Doch es ist keine Freiheit im Sinne des Egos: tun und lassen zu dürfen, was man will. Es ist eine Freiheit, die die Verantwortung annimmt, an eine höhere Ordnung gebunden zu sein.

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