Wie kann ein durch und durch egoistischer Mensch berührt werden? / Ausschnitt aus Anker Larsens „Martha und Maria“
Kürzlich hat mich ein Werk des dänischen Schriftstellers Johannes Anker Larsen sehr berührt: Martha und Maria. Dem tiefgründigen Autor ist noch mehr Bekanntheit hierzulande zu wünschen! Heiter durchschaut er den Egoismus.
Vielleicht kennen Sie diese Situation: Sie begegnen einem Menschen, in dessen steinharter Ichzentralität keine Lücke zu entdecken ist. Wie kann dieser Mensch von einem anders schwingenden Impuls berührt werden?
In einer solchen Situation befindet sich eine der Hauptfiguren in Anker Larsens Roman, Marie. Sie ist bereits alt, ihr Ehemann ist verstorben. Von Güte und innerem Reichtum durchdrungen, besucht sie alte Menschen in einem Pflegeheim. In Frau Bjerre trifft sie auf eine Herausforderung:
„Es war Frau Bjerres Lieblingssport, zu irritieren und zu verletzen, sie lag auf der Lauer, um die empfindlichsten Stellen anderer ausfindig zu machen, und war genial darin, ihren Stachel dort einzusetzen. Sie imponierte Marie, die bald einsah, dass es ihr unmöglich war, Frau Bjerre auch nur das geringste Gute zu tun. Im Gegenteil, das Verhältnis war umgekehrt, denn Marie dachte:
‚Sie ist der ideale harte Prüfstein für den, der sich wie ich damit wichtig macht, dass sein eigenes altes Ich tot und fort ist. Ja, wäre ich ein wenig egozentrischer, so würde ich glauben, sie sei einzig und allein auf der Welt, um mich auf die Probe zu stellen – denn es ist mir nicht möglich, zu sehen, welche Freude sie sich und anderen bereiten könnte. – Ich würde gern wissen, wie sie sich ausnimmt, mit ihren eigenen Augen gesehen, aber ich kann nicht zu einem innerlichen Zusammensein mit ihr kommen.‘
Es gelang Marie trotzdem, die andere zu sehen. Und zwar eines Tages, als Marie im Begriff war, sich anzuziehen, um eine andere Kranke zu besuchen.
‚Gehen Sie schon?‘ fuhr Frau Bjerre sie an.
‚Ja, es ist ja Zeit‘, antwortete Marie.
‚O – Sie könnten wohl noch ein wenig bleiben‘, sagte Frau Bjerre in einem Ton, als sei Marie nicht ihren Lohn wert.
‚Die anderen wollen doch auch versorgt werden‘, meinte Marie.
Frau Bjerre starrte sie ohne jegliches Verständnis an. Sie hatte gedacht, Marie wollte jetzt frei sein, habe keine Lust mehr, das hier aber war töricht.
‚Die anderen‚, sagte sie, ‚die anderen können doch wirklich warten.‘
Jetzt musste Marie so lachen, wie sie nur ein einziges Mal in ihrem Leben gelacht hatte, da sie als kleines Mädchen mit dem Schlitten über einen hohen Hang hinuntergerutscht war, ohne zu ahnen, wo sie hinrutschte, sondern nur gelacht und gelacht hatte vor Entsetzen, vor Vergnügen und vor Kitzeln.
Bei den Worten ‚die anderen‘ und ‚wirklich‘ war sie geradewegs in Frau Bjerre hineingerutscht und sah sie nun von innen. Es war ein imponierender Palast. Hier begegnete Marie einer Art Unschuld, die sie nie geahnt hatte. Frau Bjerre war in ihrem guten Recht. Die ganze Welt war um ihretwillen da. Und wenn es der Herrgott selbst gewesen wäre, so musste er seine Existenzberechtigung als Frau Bjerres Wärter erbitten!
In der folgenden Zeit besucht Marie Frau Bjerre weiterhin – stets mit Freude und einem Lächeln, gelegentlich auch einem Kichern. Eines Tages fragt Frau Bjerre:
‚Worüber lachen Sie eigentlich?‘
‚Ich lache über die Verschwendung unseres Herrgotts‘, antwortete Marie, ‚er hätte leichter und billiger davonkommen können.‘
‚Was soll das heißen?‘ fuhr Frau Bjerre sie an.
‚Ich kann nicht die Notwendigkeit dafür einsehen, die Welt auch nur annähernd so groß zu schaffen‘, sagte Marie, ‚und namentlich alle diese Menschen hineinzusetzen – Sie brauchen ja nicht mehr als nur ein kleines bisschen von alledem.‘
Frau Bjerre stutzte; Maries Ton klang ganz aufrichtig. Natürlich war es ein derber Scherz, aber trotzdem – Frau Bjerre hätte dies auch sagen können, wenn sie den Humor dazu gehabt hätte. Den besaß sie nicht, aber sie bekam ein klein wenig geschenkt. Er sprang von Maries Augen auf sie über; in diesen Augen war etwas Kitzelndes, und Frau Bjerre merkte, wenn dies so weiter ging, so würde sie lachen müssen, was jedoch keineswegs ihre Absicht war. Aber es ging so weiter und sie gab nach und lachte.
‚Ich bin vielleicht ein wenig anspruchsvoll‘, sagte sie unversehens. Dieses Geständnis machte sie beinahe ganz verwirrt, zugleich aber war es mit einem ganz unbekannten Behagen verbunden – es erinnerte sie entfernt an eine Linderung bei der Ischias. Wenn nur Frau Nyeland [Marie] ein solches Geständnis auch vertrug. Das tat Marie, denn sie sagte ablenkend:
‚Das sind wir wohl alle, wenn wir es uns erlauben können.‘
Frau Bjerre saß eine Weile da und orientierte sich in einem neuen und seltsamen Gefühl, das sie unsicher machte; sie hatte fast Lust, Frau Nyeland irgend eine Kleinigkeit zu schenken. Glücklicherweise ging Marie fort, noch ehe Frau Bjerre sich zu Übertreibungen hatte verleiten lassen. Das war Frau Bjerres erstes verwirrendes Zusammensein mit dem Guten. Zwar war es nicht viel, aber es war doch etwas.“
Anmerkung: Mir liegt eine alte Ausgabe (Leipzig 1925) vor. Im mym-Verlag wurde das Werk neu übersetzt.
Anker Larsen: Martha und Maria
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