Imitation spiritueller Weisheit im Sport

Zugegeben, der Titel ist etwas provokant formuliert. Meine These lautet: Es gibt nur eine Ur-Sehnsucht, ein Ur-Verlangen im Menschen, das ihn antreibt: die Rückkehr in seine spirituelle Heimat, ein Lebensfeld ohne Streit, ohne Tod, ohne Konkurrenz. Ein Lebensfeld, in dem Liebe keinen Gegenpol kennt, in dem Liebe nicht nur einen Aspekt im Meer der Möglichkeiten bildet, sondern in dem Liebe ein alles umfassender Zustand ist. Ein Funke im Menschen kennt dieses Lebensfeld.

Novak Djokovic 2011 Australian Open; Urheber: Christopher Johnson (globalite); Quelle: Wikimedia Commons

Novak Djokovic 2011 Australian Open; Urheber: Christopher Johnson (globalite); Quelle: Wikimedia Commons

Die Persönlichkeit versteht und interpretiert diese Ur-Sehnsucht auf ihre ganz individuelle Weise. Und so jagen Menschen ihrer Sehnsucht auf alle nur denkbaren Arten nach. Ein Bereich, in dem das geschieht, ist der Sport: Dort findet man hohe Ideale, aber auch Kampf und Enttäuschung. Wo es Sieger gibt, muss es in dieser Welt der Gegensätze auch Verlierer geben; wo es Fairness und Sportsgeist gibt, trifft man ebenso auf Betrug und Härte.

Im Folgenden betrachten wir einige Beispiele, wie spirituelle Ideale auf die Ebene des Sports bezogen werden. Man könnte die Liste leicht verlängern – der Einfachheit beschränke ich mich auf Fußball und Tennis, zwei der populärsten Sportarten hierzulande.

Es gibt schon viele Untersuchungen zu Parallelen zwischen Sport und Religion*. Mich interessieren hier nicht die mehr oder weniger erstarrten Rituale (Wochenende: Kirchgang vs. Gang ins Stadion, Gesänge, …). Es geht mir eher um die Sehnsucht nach dem Heiligen und die Suche nach Vorbildern und Werten, die über den Alltag hinaus weisen.

Die Sehnsucht nach dem Heiligen: Heiliger Rasen

Wimbledon, Centre Court, 2010; Urheber: Albert Lee; Quelle: Wikimedia Commons

Wimbledon, Centre Court, 2010; Urheber: Albert Lee; Quelle: Wikimedia Commons

Das Bedürfnis, etwas als heilig zu verehren, zeigt sich in der Formulierung Heiliger Rasen. Sie wird zum Beispiel auf die Tennisplätze von Wimbledon angewendet (Wikipedia, Stand 3.10.2018): „Die Plätze in Wimbledon werden umgangssprachlich auch als ‚heiliger Rasen‘ bezeichnet.“ Fußballplätzen wird diese Ehre ebenso zuteil. So ist eine Webseite des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) in der Rubrik „Abteilungsleiterin Fußball“ betitelt: HEILIGER RASEN: BAU UND PFLEGE VON FUSSBALLPLÄTZEN

Sehnsucht nach dem Heiligen: Tempel

Ein bekanntes Buch des Fotografen Reinaldo Coddou H., mit einem Vorwort von Christoph Biermann, heißt Fußballtempel. Es wurde bereits mehrfach neu aufgelegt. Die Google-Suche nach Sporttempel bringt tausende Treffer.

Sehnsucht nach dem Heiligen: Der Heilige Gral

Kelch der Doña Urraca, Basilika San Isidoro, León

Kelch der Doña Urraca, Basilika San Isidoro, León. Urheber: Locutus Borg (José-Manuel Benito Álvarez); Quelle: Wikimedia Commons

Ein weiteres spirituelles Motiv ist der sagenumrankte Heilige Gral. Der vielleicht bekannteste Tennis-Trainer der Welt, Nick Bolletieri, bezeichnete Wimbledon als den „Heiligen Gral des Tennis“. (Im gleichen Interview sprach er von Wimbledon auch als dem Paradies.) Selbstverständlich wurde auch im Fußball der Heilige Gral gefunden, zum Beispiel mit einer Methode, Fußballspiele mit Kennzahlen zu analysieren. Das Packing beschreibt, wie viele Gegenspieler überspielt wurden. Die OVB Online titelte: „Der Heilige Gral ist gefunden“.

Es dürfte kein Zufall sein, dass Pokale oft wie Gralsbecher geformt sind. Auf Siegerfotos setzen Sportler sie sich häufig auf wie eine Krone – ein Bild für ein Königtum, das man auch innerlich verstehen kann, als Krönung der Selbst-Überwindung.

Die Gralslegende findet sich z. B. bei Parzival. Er begegnet dem Gral bereits früh auf seiner Suche, stellt jedoch nicht die richtige Frage („Woran leidest Du?“). Erst nach vielen (vermeintlichen) Irrwegen, innerlich gereift, findet er den Gral wieder.

Die Gralslegende kann man (mindestens) auf drei Ebenen verstehen: 1. materiell-körperlich-persönlich, 2. seelisch und 3. geistig. Wendet man Goethes einprägsame Worte „Alles Irdische ist nur ein Gleichnis“ darauf an, dann kann man sicher davon ausgehen, dass die äußeren Bilder auf innere (d. h. seelisch-geistige) Prozesse hinweisen. Siehe zum Beispiel hier: Das Mysterium des Heiligen Grals.

Doch Abbilder der Spiritualität im Sport zeigen sich nicht nur in Begriffs-Anleihen. Einen spirituellen Weg zu gehen bedeutet, einen Verwandlungsprozess zu durchlaufen. Ideale können dabei eine Richtschnur bilden.

Ideale: Seelen-Einheit und die Überwindung des Egos

Ein solches Ideal lautet: Überwinde Dein Ego. Das Ego steht für das (irrtümliche) Bewusstsein, von allen anderen Wesen getrennt zu existieren. Auf der Seelen-Ebene existiert diese Trennung nicht. Es geht also darum, sich als begrenztes, unvollkommenes Wesen einer höheren Einheit anzuvertrauen, in ihr aufzugehen. Ein Schritt dazu ist die Mitarbeit in einer Gruppe Gleichgesinnter. Einzelgänger haben es – im Leben wie auf dem spirituellen Weg – schwer. Im Sport wirkt das Ideal der Seelen-Einheit als Bedürfnis, das eigene Streben dem Wohl der Mannschaft unterzuordnen. So sagte Bayern-Star Thomas Müller in einem Interview Anfang 2017:

Der Teamgeist ist elementar, da muss jeder das eigene Ego hintanstellen.

Ideale: Treue, Hingabe, Mut, Durchhaltevermögen

Ölgemälde ‚Die Gralsburg‘ von Hans Thoma, 1889, Galerie im Schloss Oberzwieselau; Herkunft: artflakes.com

Ölgemälde ‚Die Gralsburg‘ von Hans Thoma, 1889, Galerie im Schloss Oberzwieselau; Herkunft: artflakes.com

Wie Parzivals Suche nach dem Heiligen Gral ist der spirituelle Weg in aller Regel nicht in kürzester Zeit zu schaffen. Er erfordert Treue, Hingabe, Mut und Durchhaltevermögen. All diese Ideale, Merkmale des Heldentums, spielen im Sport eine bedeutende Rolle. Leistungssportler bringen große Opfer, um ihre Körper in Höchstform zu bringen und ihre Talente zu entwickeln. Sie müssen oft Rückschläge verkraften. Denken wir etwa an Roger Federer, der so viele Tennis-Rekorde hält und dabei so viele schmerzliche Niederlagen erlitt**.

Rückschläge auf dem spirituellen Weg beziehen sich letztlich auf innere Prozesse, auch wenn die Hindernisse vermeintlich im Außen auftreten. Das Ego kann den Weg lange scheinbar hingebungsvoll mitgehen – bis es schließlich entlarvt und damit zum inneren Widersacher wird. Ein anschauliches Bild dafür liefert Gollum im Herrn der Ringe, der vergeblich versucht, die „böse“ Stimme auszuschalten, „gut“ zu werden und die Hobbits zu unterstützen. Doch er kann nicht anders – in Mordor verrät er Frodo an die Riesenspinne Kankra. Wird das Ego zum Widersacher, dann zeigt sich, wie stark die Sehnsucht nach einem fundamental anderen Lebenszustand wirklich ist und wie viel von der anfänglichen Hingabe und dem Durchhaltevermögen dann noch übrig bleiben.

Enttäuschung auf der irdischen Ebene

So sehr die Ideale Menschen zu Höchstleistungen antreiben können, so sind sie doch auf der irdischen Ebene immer nur unvollkommen und bestenfalls vorübergehend verwirklichbar. Siege werden meist auf Kosten Anderer errungen und verursachen Enttäuschung. Die so hart erarbeitete Top-Form geht bei Krankheiten, Verletzungen oder spätestens im Alter verloren. Große Siege verlieren mehr oder weniger rasch an Aktualität, es rücken immer neue Helden nach … Die Sehnsucht des Menschen wird so lange geläutert, bis sie sich auf unvergängliche Werte richtet.

Literatur (bezahlter Link):

Wolfram von Eschenbach: Parzival

  • Religion im ursprünglichen Sinn: Re-ligio, Rückverbindung (Wieder-Verbindung) mit dem Göttlichen, dem ursprünglichen Lebensfeld.

** Für die Tennis-Fans: Vielleicht vergisst man angesichts der vielen Erfolge, wie viele schmerzliche Niederlagen Roger Federer sammelte. Hier eine Auswahl (Stand Anfang Oktober 2018):

  • 10 verlorene Grand-Slam-Finals, davon 6 gegen Nadal, davon 4x French Open
  • 20 Matches nach eigenem Matchball verloren, davon 5 bei Grand Slam-Turnieren; 2 mal in Folge im US-Open-Halbfinale gegen denselben Gegner (Djokovic, 2010 und 2011)
  • negative Matchbilanz gegen Nadal und Djokovic
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