Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger

Mit Life of Pi erzählte Regisseur Ang Lee 2012 eine Geschichte, deren äußere Handlung fast so einfach zusammenzufassen ist wie die der Titanic. Der Film basiert auf dem Roman Schiffbruch mit Tiger von Yann Martel aus dem Jahr 2001.

Schiffbruch mit Tiger: Die äußere Handlung

Piscine Patel, der seinen Namen auf Pi verkürzt, wächst in Indien als Sohn eines Zoodirektors auf. Er interessiert sich früh für Religionen und sieht sich bald gleichzeitig als Hindu, Christ und Muslim, während sein Vater ihn wissenschaftlich-rational erzieht.

Als Pi 17 Jahre als ist, beschließt die Familie, nach Kanada auszuwandern und ein neues Leben zu beginnen. Sie verkaufen einige Tiere und nehmen die verbliebenen aufs Schiff mit. In einem gewaltigen Sturm sinkt das Schiff – Pi, ein verletztes Zebra, eine Hyäne und ein Orang Utan retten sich auf ein Boot. Die Hyäne tötet das Zebra und den Affen. Dann taucht der bengalische Tiger Richard Parker auf, der unter der Bootsplane versteckt gewesen war, und tötet die Hyäne. (Der Name des Tigers entstammt einer kuriosen Verwechslung von Papieren.) Somit bleiben nur der Tiger und Pi übrig. Pi baut ein Floß aus Rettungswesten und Paddeln, um Sicherheitsabstand zum Tiger zu halten. Als Kind hatte Pi vom Vater gelernt, welch unbarmherziges Raubtier der Tiger sein kann – der Vater ließ vor den Augen der Kinder (Pi hatte einen Bruder) eine angebundene Ziege vom Tiger reißen.

Nach und nach arrangieren sich Pi und der Tiger. Sie stärken sich an fliegenden Fischen, sehen einen riesigen Wal aus unmittelbarer Nähe in die Höhe schießen und legen an einer sonderbaren Insel an. Das zauberhafte Eiland bietet malerische Wasserbecken, eine üppige, nahrhafte Vegetation und wimmelt vor süßen Erdmännchen. Nachts erweist es sich jedoch als fleischfressendes System. Pi und der Tiger überleben erneut und setzen ihre Fahrt fort.

Nach insgesamt 227 Tagen (über 7 Monate) auf See legt das Boot am Strand von Mexiko an. Der abgemagerte, entkräftete Tiger verschwindet schnurstracks im Dschungel, was Pi fast das Herz bricht. Er selbst wird, ermattet am Strand liegend, gefunden und gerettet.

Rahmenhandlung und alternative Geschichte

Die Geschichte ist in eine Rahmenhandlung eingebettet: Ein Autor besucht Piscine, um seine außergewöhnliche Überlebensgeschichte zu hören und als Biografie zu veröffentlichen. Nach seiner Rettung, fährt Piscine fort, sei er von japanischen Versicherungsinspektoren besucht worden, die die Ursache für den Schiffsuntergang herausfinden wollten. Sie fanden Pis Geschichte zu unglaubwürdig und wollten eine andere Geschichte hören, die sie ihrem Auftraggeber präsentieren könnten. Pi erzählt nun recht kurz die zweite Version – der Film zeigt nur den Erzähler und erspart dem Zuschauer die grausamen Details. Demnach hätten sich neben Pi noch ein Seemann mit gebrochenem Bein, Pis Mutter und der Koch ins Boot geflüchtet. Der Koch amputierte das gebrochene Bein des Seemanns, konnte dessen Leben jedoch nicht retten. Anschließend verwendete er den Leichnam als Fischköder und aß auch selbst davon. Pi und seine Mutter ekelten sich vor dem Grobian und wollten auf ein Floß umziehen. Dabei tötete der Koch die Mutter, die den Jungen schützen wollte, und warf sie den Haien vor. Darauf habe Pi den Koch getötet und sei dann allein übers Meer getrieben bis zu seiner Rettung.

Der Autor zieht unmittelbar die Parallele zwischen den beiden Geschichten, indem er die Tiere als Symbole für die Menschen ansieht: Das Zebra steht für den Seemann, der Orang Utan für die Mutter, die Hyäne für den Koch (vor dem Schiffsuntergang herrlich unsympathisch dargestellt von Gerard Depardieu) und Pi ist der Tiger.

Pi fragt den Autor, welche Geschichte ihm besser gefallen habe: „Die phantastische“. Pis Antwort: „Genau so ist es mit Gott.“

Versuch einer spirituellen Deutung von „Schiffbruch mit Tiger“

Das Ende ließ mich perplex und etwas ratlos zurück. Der Film enthält so viele religiöse und spirituelle Hinweise (beginnend mit idealisierten Bildern des Zoos, die an den Garten Eden erinnern), dass ich mich nicht mit einem rätselhaft-vagen Gefühl zu den eindrücklichen Bilderwelten zufrieden geben wollte. Es musste doch irgendwie zusammenpassen … Es dauerte eine Weile, bis sich die Puzzleteile zusammenfügten – ohne Gewähr und rein subjektiv …

Piscine erzählte, wie er zu Gott fand. Inwiefern hat er sein Ziel erreicht – worin zeigt sich das Finden?

Universum - C. Flammarion
Universum – C. Flammarion, Holzschnitt, Paris 1888, Kolorit: Heikenwaelder Hugo, Wien 1998

Der Name Pi deutet auf den Kreis hin. Wenn Pi sich selbst überwand, dann hat er den Kreis durchbrochen, (nicht nur) aus buddhistischer und hinduistischer Sicht den Kreis der Wieder-geburten, er überwindet die Grenze der Welt der Gegensätze.

Die längere Namensvariante Piscine verweist auf ein Schwimmbad, in dem der Badende eine reine Seele erhalten soll.

Die äußere Wirklichkeit und die Welt der Seelen-Entwicklung

Welche der beiden Geschichten ist wahr? Vielleicht stimmt jede auf ihrer Ebene. Die Version für die Reederei / Versicherung hat Pi äußerlich erlebt. Die gewaltigen Bilderwelten, die den Film auch ohne jede Interpretation sehenswert machen, die Traumwelten im Meer, die gewaltigen Stürme (auch nach dem Schiffsuntergang geriet die Schicksalsgemeinschaft in einen weiteren Sturm), die den Wissenschaftlern unbekannte schwimmende Insel – all das sind Seelenbilder. Folgt man der hinduistischen Vorstellung, die die sichtbare Welt als Maya, als Schein betrachtet, so verfügen die Seelenbilder über eine mindestens ebenso ernst zu nehmende Realität wie das äußere Geschehen. Nach dem Tod löst sich der unsterbliche Teil des Menschen von der stofflichen Welt. Der Schein vergeht, während die Ewigkeitsanteile der Seele weiterbestehen.

Im Kreislauf der Wiedergeburten erinnern wir uns in aller Regel ohnehin nicht an die Details früherer Inkarnationen – und das ist auch nicht wichtig. Lediglich die Essenz wird ins System eingebrannt, sodass ein Mensch die Suche seines Vorgängers fortsetzen kann. Die Seelenbilder korrespondieren mit prägenden Erfahrungen, Stürme markieren einschneidende Erlebnisse.

Das Leben besteht aus Abschieden

An einer Stelle im Film wurde das Leben als Aneinanderreihung von Abschieden bezeichnet. Wer sich dieser Wahrheit nicht stellen will und an seinem (vermeintlichen) Besitz festhalten möchte, wird spätestens mit dem Tod zum Abschiednehmen gezwungen. Die feinstofflichen Bewusstseinsanteile werden leiden, wenn sie sich ohne grobstofflichen Körper ihre irdischen Wünsche nicht mehr erfüllen können. Ein Aspekt des Befreiungsweges ist es, den Abschied von der Welt während des Lebens bewusst und freiwillig zu vollziehen, um sich von allen Bindungen zu lösen.

Pi hat auf seinem Einweihungsweg alles verloren – seine Familie und das, was er in jungen Jahren seinen Besitz nennen mochte.

Der Tiger

Die Deutung der Tiere ist im Film direkt angesprochen – was hat es zu sagen, dass Pi mit dem Tiger assoziiert wird? Es sind ja zwei Wesen auf dem Boot. Vielleicht steht der Tiger für den Überlebenstrieb, für das Animalische, das nackte Ich-Prinzip, und die Gestalt des Pi für das wachsende Seelenwesen. Es wird kein Zufall sein, dass der Tiger einen menschlichen Namen trägt: Richard Parker.

Im üblichen gesellschaftlichen Leben, symbolisiert als das Familienleben vor dem Schiffbruch, ist der Tiger sicher verwahrt: das nackte Ego wird von einem Mantel aus kulturellen Regeln in Zaum gehalten. Die Szene mit der angebundenen Ziege zeigt, was passiert, wenn der Urtrieb zur Geltung kommt.

Für das Zusammenleben mag es zeitweise genügen, den Tiger hinter gesellschaftlichen Gittern zu halten. Um Gott zu finden, ist jedoch vollständiges Erkennen und schließlich das Überwinden des Naturtriebes nötig. Im Boot, auf hoher See, kann er seinem wahren inneren Zustand nicht mehr ausweichen, er wird schonungslos damit konfrontiert. Zunächst behilft sich Pi mit dem Floß, später zähmt er den Tiger so weit, dass er sich wieder aufs Boot traut. Das gelingt nicht auf Anhieb – der Tiger reagiert in einer überraschend-witzigen Szene sehr direkt und klar auf Pis ersten Versuch, sein Revier zu markieren.

Im Laufe der Reise ermattet der Tiger und magert ab – das Ich-Prinzip wird ausgehungert, es findet auf dem Einweihungsweg immer weniger Nahrung. Kurz vor der Rettung am mexikanischen Strand liegt der Tigerkopf in Pis Schoß – der Tiger stellt keine Gefahr mehr dar, ist aber noch nicht ganz überwunden.

Die fleischfressende Insel

Kurz bevor Pis Reise endet, landet das Boot an der seltsamen Insel, die sich tagsüber so idyllisch präsentiert und sich nachts zur fleischfressenden Gefahr wandelt. Vielleicht ein Bild für unsere Welt der Gegensätze, in der jede Schönheit vergeht und sich das relative Gute mit dem relativen Bösen abwechselt. Hier gibt es kein dauerhaftes Idyll. Es kann eine Prüfung sein, ob der Kandidat sich doch noch mit dem schönen Schein zufrieden gibt, oder ob er wirklich bereit ist, von allem Irdischen Abschied zu nehmen. Vergleiche Robert de Ropp: Fallen auf dem spirituellen Pfad.

Warum blickt der Tiger sich nicht um? Humanismus versus Spiritualität

Pi bricht fast das Herz, als der Tiger ihn Richtung Dschungel verlässt, ohne ihn eines einzigen Blickes zu würdigen, ohne Zeichen des Abschieds, während Pi selbst, endlich am rettenden Strand angekommen, erschöpft liegen bleibt.

Für mich drückt diese Szene den fundamentalen Gegensatz aus zwischen der irdischen Sichtweise, die nach dem Äußeren urteilt, und der spirituellen Ebene. Die irdische Sicht ist hier schmerzhaft und weitgehend unverständlich – warum ist bei all den bestandenen Abenteuern keine Freundschaft, keine Bindung zwischen den Schicksalsgefährten entstanden? Allgemeiner formuliert: Warum können nicht alle Wesen respektvoll, freundschaftlich, liebevoll mit einander umgehen?

Aus spiritueller Sicht geht es um einen nüchternen Blick auf unpersönliche Kräfte. Pi erreicht das neue Land, einen neuen Lebenszustand, er hat sich selbst überwunden. Der Tiger verlässt ihn – er muss nicht mehr fürchten, dass sein Ego, sein Naturtrieb wieder hervorbrechen könnte. Die Stunde des endgültigen Abschieds ist gekommen. An diesem Punkt geht es nicht um Sentimentalitäten. Es ist auch kein glorienvoll-mystischer Moment mit Heiligenschein und Engelschören – eher ein notwendiger Schritt nach langer Vorbereitung. Pi hat Gott gefunden, indem er das Hindernis in sich selbst erkannte und überwand – nun gibt es keine Trennung mehr, keine Angst und kein Hadern mit dem Schicksal.

Vergleiche dazu den Beitrag über Leonard Cohens Different Sides.

Hinweis: Das Buch habe ich (noch) nicht gelesen.

Mehr (Hinweis: bezahlte Links):

Zum Film: Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger

Leonard Cohen: Old Ideas (enthält Different Sides)

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