Leonard Cohen: Different Sides
2012 erschien der Song Different Sides auf Leonard Cohens Album Old Ideas.
We find ourselves on different sides
Of a line nobody drew
Welche verschiedenen Seiten sind gemeint? Im leonardcohenforum.com werden unterschiedliche Interpretationen vorgeschlagen.
Interpretations-Ansätze zu Cohens Different Sides
- Religiöse Rechte vs. religiöse Liberale: eine Seite urteilt strenger über sexuelle Vorlieben
- Andere verstehen den Song als Ausdruck der Auseinandersetzungen zwischen Israel und Palästina: Sie verständigen sich auf Regeln („laws to obey“), kommen aber nicht zu einem friedlichen Miteinander.
- Unterschiede zwischen Judentum (mit Christentum?) und Islam
- Beziehungen Frau / Mann: Trennung trotz starker Liebe, da sich Lebensziele in verschiedene Richtungen entwickeln
- Zwei Seiten in einem Menschen: das strenge „Du“, das eigene Fehltritte verurteilt (Gewissen), und das etwas lockerere Ich, das milde zu sich selbst ist
- Der Ozean des Lebens, zwischen kaltem Mond und heißer Sonne, ein Leben zwischen Gegensätzen, zwischen Ich und Du, bis schließlich die Ganzheitlichkeit erreicht wird – dann gibt es keine verschiedenen Seiten mehr
„Alles ist eins“ versus „Es gibt zwei Lebensfelder“
Auf dem spirituellen Weg kommen viele Sucher an den Punkt, dass sie Aussagen in Weisheitsschriften als widersprüchlich empfinden. Ein vermeintlicher Widerspruch besteht zwischen der Auffassung „Alles ist eins, Gott ist überall“ und der Auffassung „Es ist scharf zwischen der göttlichen Welt und der Welt der Gegensätze, in der wir Menschen leben, zu unterscheiden“.
Cohen zeigt in Different Sides eine Lösung auf, indem er andeutet, auf welcher Ebene welche der beiden Auffassungen gilt:
We find ourselves on different sides
Of a line nobody drew
Though it all may be one in the higher eye
Down here where we live it is two
Auf der Ebene unserer grobstofflichen Existenz in der Welt von Leben und Tod, Liebe und Hass, Frieden und Krieg, Tag und Nacht … erscheint alles zweipolig. Wir nehmen uns als getrennt von unseren Mitmenschen wahr. Eine wichtige Erkenntnis lautet: Diese Welt mit ihren Gegensätzen ist nicht göttlich. In der göttlichen Sphäre gibt es keine sich bekämpfenden Pole, keine Gegner, keine Feinde, keinen Hass. Diese höhere Sphäre besteht, doch wir können nicht ohne weiteres Anteil an ihr erhalten. „Where we live it is two“.
Wer in diese höhere Sphäre eintaucht und ihre Realität erfährt, erlebt eine alles umfassende Einheit. In diesem Zustand gibt es keine Trennung: „it all may be one in the higher eye“.
Zu dieser Unterscheidung der Ebenen und der Einheit aus höherer Sicht vergleiche Shankaras „Kleinod der Unterscheidung“ in dem Beitrag „Alles ist eins“ vs. Unterscheidung des Ungöttlichen vom Göttlichen.
Bevor die Einheit erfahren werden kann, muss das Unterscheidungsvermögen ausgebildet werden. Sicher lassen sich viele Beispiele für die Trennung der Ebenen finden; hier seien zwei genannt:
- Jakob Böhmes Beschreibung der „Zornwelt“ als abgeschlossene Einheit, vom ursprünglichen Leben getrennt;
- die Worte Jesu im Neuen Testament: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“.
Was sind die zwei Seiten, die Different Sides?
„A line nobody drew“ deutet meines Erachtens an, dass es um keine von Menschen gezogene Grenze geht, also keine politische Grenze und keine Grenze zwischen formal definierten Organisationen. Wie werden die beiden Seiten charakterisiert?
I to my side call the meek and the mild
You to your side call the Words
By virtue of suffering I claim to have won
You claim to have never been heard
Cohen verortet das „Ich“ auf der Seite der Sanften und Milden, die Seite des „Du“ auf der Seite der Worte. Kraft des Leidens habe die sanfte Seite gewonnen – die andere Seite sei gar nicht gehört worden.
Für beide Seiten gelten Gesetze, Regeln – doch diese sind offenbar unterschiedlich.
Both of us say there are laws to obey
Yeah, but frankly I don’t like your tone
You want to change the way I make love
(But) I want to leave it alone
Die „Seite der Worte“ will der anderen Seite Regeln für die Liebe vorgeben, doch die Seite der Sanftheit sieht das anders. Worin unterscheiden sich die Seiten? Cohen gibt Hinweise – es geht um die Haltung zum Leid in der Welt.
Down in the valley the famine goes on
The famine up on the hill
I say that you shouldn’t, you couldn’t, you can’t
You say that you must and you willYou want to live where the suffering is
I want to get out of town
Come on, baby, give me a kiss
Stop writing everything down
Das Leid in der Welt ist allgegenwärtig – angedeutet als Hungersnot (famine) im Tal und auf dem Berg. Die „Seite der Worte“ fühlt sich zum Leid hingezogen, sie will dort leben. Die Seite der Sanftmut will „die Stadt verlassen“. Der Kampf gegen das Leid wird geführt, seit die Menschheit existiert – doch es ist kein Ende des Leidens in Sicht – der Kampf kann nicht prinzipiell gewonnen werden.
Humanismus und gnostische Spiritualität
Eine mögliche Deutung mag im folgenden Bild liegen: Eine tiefe, unwirtliche Schlucht im Halbdunkel. Viele Menschen halten sich darin auf, viele sind verwundet, viele frieren, sie sitzen und liegen sehr unbequem auf den harten, spitzen Steinen. Zwei Menschengruppen sind in diesem Elend stark genug, sich über ihr eigenes Wohlergehen hinaus einzubringen.
Einige Menschen helfen den Verletzten, Frierenden und Hungernden. Sie versorgen die Wunden, verteilen warme Suppe und Decken. Das könnte die Seite des „Du“ in Cohens Lied sein, die humanistische Seite – „You want to live where the suffering is“.
Eine zweite Gruppe weiß diese Arbeit, die das Leid lindert, sehr zu schätzen – viele der Leidenden kommen nur dank dieser Hilfe überhaupt auf die Beine. Doch in den Herzen der zweiten Gruppe pulsiert ein anderes Drängen. Sie sind von dem Bewusstsein durchdrungen, dass diese unwirtliche Schlucht nicht als dauerhafter Aufenthaltsort für die Menschen bestimmt ist. Sie kennen den Ausgang aus der Schlucht, sie haben etwas vom Leben im hellen Sonnenlicht erfahren. Ihre Sehnsucht zieht sie zum Licht – und sie bieten allen, die dafür offen sind, ihre Hilfe an: „Kommt mit uns!“ Das könnte die Seite des „Ich“ in Cohens Lied sein – „I want to get out of town“.
The pull of the moon, the thrust of the sun
Thus the ocean is crossed
The waters are blessed while a shadowy guest
Kindles a light for the lost
Die Menschen in der Schlucht fühlen sich verloren, doch es gibt ein Licht, das sie führt. Das blasse Mondlicht ist nur ein indirekter Abglanz des viel helleren, direkten Sonnenlichts. Der Ozean, der die beiden Seiten, die beiden Lebenszustände trennt, kann überquert werden.
Gesetze und Regeln – je nach Bewusstseinszustand
Jeder Mensch reagiert auf ein inneres Drängen – wie unterschiedlich diese Reaktionen auch sein mögen. Manche streben nach Karriere, manche nach Wissen, nach Ruhm, nach Reichtum, nach Erleuchtung. Jedes Betätigungsfeld unterliegt bestimmten Gesetzmäßigkeiten. So unterliegt auch jedes Lebensfeld eigenen Gesetzen: Das Leben in der Schlucht folgt anderen Regeln als das Leben im hellen Licht. Jeder muss nach seinem eigenen Bewusstseinszustand handeln. Auch dafür ein Bild:
Meister und Schüler gehen an einem Fluss entlang. Der Schüler hört einen Ertrinkenden um Hilfe rufen. Der Meister geht unbeirrt weiter. Der Schüler ist irritiert, folgt aber dem Meister. Schließlich verstummt das Rufen – offenbar ist der Rufer in den Fluten versunken. Der Schüler fragt: „Meister, warum hast Du ihm nicht geholfen?“ Der Meister antwortet ruhig: „Ich kannte sein Karma. Aber warum hast Du ihm nicht geholfen?“
Leonard Cohen: Album Old Ideas
Shankara: Das Kleinod der Unterscheidung
Zur Übersichtsseite: Spirituelle Interpretationen von Rock- und Popsongs
That’s very interesting, but what do you think what will be the meaning of „You want to change the way I make love
I want to leave it alone“? Apart the litteral meaning, of course. Where does it fit in your different interpretations you wrote just after the video link?
Good question! Here’s a try. Not „the truth“, just a perspective / suggestion.
The „Side of the Words / You“ has clear ideas of what is good
and what is bad, e. g. suffering must be fought, we must help people, we must try to be as „good“ as possible. Those ideas are also applied to how we love. Maybe in a moral sense.
The „Side of the meek and mild / I“ is not so sure about that. From an earthly perspective, there are always two sides: good and bad, light and dark, life and death, etc. From the higher perspective, there is just unity. Opposition, dissent, contradiction are dissolved in this higher unity. This is unity / goodness in an absolute sense, without a counterpart. People who are touched by a sense of this unity are less inclined to judge others, jugde what is good and bad. Judgements are always based on a very incomplete, limited understanding. Maybe in that sense the „I“ speaker does not want to be judged by the „you“.
Love between two people is limited and excludes others. Love in a higher sense does not exclude any living being.