Das rechte Gebet: Der weise Rabbi in Meyrinks „Engel vom westlichen Fenster“

In Gustav Meyrinks Engel vom westlichen Fenster spricht der Gelehrte und Alchimist John Dee in Prag mit einem weisen Rabbi über das Beten, das „richtige“ Gebet (Langen Müller, Abdruck nach Erstausgabe 1927, S. 312ff):

Skulptur im Grugapark Essen: Ernst Seger, Speerwerferin 1937. Quelle: Wikimedia Commons; User Wiki05

Wir sprechen von den Mühsalen der unwissenden Menschen um die Geheimnisse Gottes und der irdischen Bestimmung.

„Man muss dem Himmel Gewalt antun“, sage ich und verweise den Rabbi auf den Kampf Jakobs mit dem Engel.

Der Rabbi erwidert: „Recht haben Euer Ehren. Gott wird bezwungen durch Gebet.“

„Ich bin ein Christ; ich bete mit dem Herzen und aus allen Kräften meiner Seele.“

„Und worum, Euer Ehren?“

„Um den Stein!“

Der Rabbi wiegt das Haupt langsam, melancholisch, wie ein ägyptischer Sumpfreiher.

„Gebet will gelernt sein!“

„Was wollt Ihr damit sagen, Rabbi?“

„Ihr betet um den Stein. Recht haben Euer Ehren. Der Stein ist ein gut Ding. – Hauptsache nur, dass Euer Gebet in Gottes Ohr trifft!“

„Wie sollte ich es nicht?“ rufe ich aus. – „Bete ich ohne Glauben?“

„Glauben?“ wackelt der Rabbi heraus. – „Was nutzt mir der Glauben ohne Wissen?“

„Ihr seid ein Jud, Rabbi“, fährt es mir heraus.

Der Rabbi funkelt mich an:

„Ä Jüd. Wahr gesprochen, Euer Ehren. – Warum fragt Ihr dann einen Juden um die … Geheimnisse?! – Beten, Euer Ehren, ist überall in der Welt nur eine Kunst.“

„Da habt Ihr gewiss die Wahrheit gesprochen, Rabbi“, – sage ich und verbeuge mich, denn mein verfluchter Christenhochmut reut mich.

Der Rabbi lacht nur mit den Augen.

„Schießen könnt ihr Gojim mit der Armbrust und mit dem Gewehr. Ä Wunder, wie ihr zielt und trefft! Ä Kunst, wie ihr schießt! Aber könnt ihr auch beten? Ä Wunder, wie ihr da falsch zielt und wie selten ihr … trefft!“

„Rabbi! Ein Gebet ist doch keine Kugel aus dem Rohr!“

„Wieso nicht, Euer Ehren? Ein Gebet ist ein Pfeil in Gottes Ohr! Wenn der Pfeil trifft, so ist das Gebet erhört. Jedes Gebet wird erhört, – muss werden erhört, denn das Gebet ist unwiderstehlich, … wenn es trifft.“

„Und wenn es nicht trifft?“

„Dann fällt das Gebet wie ä verlorener Pfeil wieder herunter, trifft manchmal noch was Falsches, fällt auf die Erde wie Onans Kraft – oder … es wird abgefangen vom `Andern` und seinen Dienern. Die erhören dann das Gebet auf … ihre Weise!“

„Von welchem `Andern` ?“ frage ich mit Angst im Herzen.

„Von welchem `Andern` ?“ äfft der Rabbi. „Von dem, der immer zwischen Oben und Unten wacht. Vom Engel Metatron, dem Herrn der tausend Gesichter …“

Ich verstehe und schaudere: Wenn ich nun – falsch bete – ?

Zum Beten vergleiche den Beitrag Mirdad (Mikhail Naimy) über das Beten.

Literatur (Hinweis: bezahlte Links):

Gustav Meyrink: Der Engel vom westlichen Fenster

Gustav Meyrink: Auf der Suche nach dem Übersinnlichen (Frans Smit)

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3 Antworten

  1. 11. Januar 2024

    […] Zum Beten bei Meyrink vergleiche Das rechte Gebet: Der weise Rabbi in Meyrinks „Engel vom westlichen Fenster“. […]

  2. 11. Januar 2024

    […] ähnliche Entscheidungssituation schildert Gustav Meyrink in dem ebenfalls empfehlenswerten Roman „Der Engel vom westlichen Fenster“ (1927). Dort tritt der Erzähler das Erbe des (historisch belegten) John Dee an und wird mit dessen […]

  3. 18. Januar 2024

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