Esoterik vs. Spiritualität: Gustav Meyrink über das Ergründen der Vergangenheit
In manchen esoterischen Ansätzen wird versucht, die eigene Vergangenheit zu ergründen: entweder „nur“ die der jetzt lebenden Persönlichkeit, oder sogar noch weiter zurück in die karmische Vergangenheit, in frühere Inkarnationen. Oft ist damit der Wunsch verbunden, die Gegenwart besser zu verstehen und Wunden zu heilen.
Der Held in Gustav Meyrinks Roman Der Golem, Athanasius Pernath, kennt seine eigene Vergangenheit nicht und ringt darum, sie zu ergründen. Hier ein Auszug aus dem Kapitel „Wach“:
„Und wie ein Spürhund drang ich weiter vor in das Dickicht der geistigen Rätsel, die mich rings umgaben.
Zuerst versuchte ich zu dem Punkt in meinem Leben zurückzugelangen, bis zu dem meine Erinnerung reichte. Nur von dort aus, glaube ich, könnte es mir möglich sein, jenen Teil meines Daseins zu überblicken, der für mich durch eine seltsame Fügung des Schicksals in Finsternis gehüllt lag. Aber wie sehr ich mich auch bemühte, ich kam nicht weiter, als dass ich mich wie einst in dem düsteren Hofe unseres Hauses stehen sah und durch den Torbogen den Trödlerladen des Aaron Wassertrum unterschied – als ob ich ein Jahrhundert lang als Gemmenschneider in diesem Hause gewohnt hätte, immer gleich alt und ohne jemals ein Kind gewesen zu sein!
Schon wollte ich es als hoffnungslos aufgeben, weiterzuschürfen in den Schächten der Vergangenheit, da begriff ich plötzlich mit leuchtender Klarheit, dass in meiner Erinnerung wohl die breite Heerstraße der Geschehnisse mit dem gewissen Torbogen endete, nicht aber eine Menge winzig schmaler Fußsteige, die wohl bisher den Hauptpfad ständig begleitet hatten, von mir jedoch nicht beachtet worden waren. ‚Woher‘, schrie es mir fast in die Ohren, ‚hast Du denn die Kenntnisse, dank derer du jetzt dein Leben fristest? Wer hat dich Gemmen schneiden gelehrt – und Gravieren und all das andere? Lesen, schreiben, sprechen – und Essen – und Gehen, Atmen, Denken und Fühlen?‘
Sofort griff ich den Rat meines Innern auf. Systematisch ging ich mein Leben zurück.
Ich zwang mich, in verkehrter, aber ununterbrochener Reihenfolge zu überlegen: Was ist soeben geschehen, was war der Ausgangspunkt dazu, was lag vor diesem und so weiter?
Wieder war ich bei dem gewissen Torbogen angelangt – Jetzt! Jetzt! Nur ein kleiner Sprung ins Leere, und der Abgrund, der mich von dem Vergessen trennte, musste überflogen sein -, da trat ein Bild vor mich, das ich auf der Rückwanderung meiner Gedanken übersehen hatte: Schemajah Hillel fuhr mir mit der Hand über die Augen – genau wie vorhin unten in seinem Zimmer.
Und weggewischt war alles. Sogar der Wunsch, weiterzuforschen.
Nur eins stand fest als bleibender Gewinn – die Erkenntnis: die Reihe der Begebenheiten im Leben ist eine Sackgasse, so breit und gangbar sie auch zu sein scheint. Die schmalen, verborgenen Steige sind’s, die in die verlorene Heimat zurückführen: das, was mit feiner, kaum sichtbarer Schrift in unserem Körper eingraviert ist, und nicht die scheußliche Narbe, die die Raspel des äußeren Lebens hinterlässt, birgt die Lösung der letzten Geheimnisse. …“
Wie wohltuend: Es ist nicht notwendig, alle Geheimnisse der Vergangenheit zu ergründen.
Der Abschnitt erinnert mich an folgendes Bild:
Der Mensch auf der Suche nach der „verlorenen Heimat“ durchwandert einen Keller, der mit allerlei Gerümpel vollgestellt ist. Er kann versuchen, den Keller vollkommen auf- bzw. auszuräumen – eine gigantische Aufgabe, die innerhalb eines Lebens nicht zu schaffen ist. Er kann sich auch damit begnügen, den Keller zu durchqueren. Dabei wird es sicherlich Hindernisse geben, die ihm dermaßen den Weg versperren, dass er sich mit ihnen beschäftigen, sie beseitigen muss. Doch eine große Menge Gerümpel kann er getrost im Keller zurücklassen; es genügt, daran vorbeizugehen.
Es geht nicht darum, in dieser Welt Perfektion zu erlangen – das, was befreit wird, gehört einer höheren Schwingungsebene an.
Dieser Beitrag ist ein Update zu Finde Deine eigene Wahrheit! / Gustav Meyrink, tote Buchstaben und lebendiges Wort.
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