Hermann Hesse: Siddhartha – ein Einweihungsroman
In Siddhartha beschreibt Hermann Hesse, wie ein Brahmane zum Buddha, zum Eingeweihten wird. Ähnlich wie bei der Morgenlandfahrt beschränkt der Dichter sich auf wenig mehr als 100 leicht zu lesende Seiten.
Siddhartha wächst in einer sehr religiösen Familie auf, er lernt die heiligen Schriften früh kennen. Doch sein Suchen und Drängen gibt sich nicht damit zufrieden, wie der Glaube in seinem Umfeld gelebt wird – etwas fehlt. Und so beschließt er eines Tages, seine Familie zu verlassen und ein Asket, ein Samana zu werden. Sein treuer Freund Govinda begleitet ihn. Sie lernen hungern und fasten und verzichten auf Weltliches. Siddhartha bleibt unzufrieden: Das Ego, das Ich kommt auch nach den tiefsten Meditationen und Momenten der Selbstvergessenheit immer wieder zurück.
Entlarvend der Tag, an dem er dem leitenden Samana mitteilt, die Gruppe zu verlassen: der vermeintlich Erhabene reagiert recht unwirsch.
Abschied von Govinda: Der erhabene Gotama
Wenig später lernen Govinda und Siddhartha einen Heiligen kennen: Gotama. Siddhartha erkennt an, dass jener die Befreiung erreicht hat und aus jeder Körperzelle Frieden ausstrahlt. Govinda schließt sich dem Erhabenen an, doch Siddhartha hat sich ein tiefes Misstrauen gegen alle Lehren erworben, ihn zieht es weiter. Er glaubt nicht, dass man von einem Geheiligten lernen kann, wie man sich selbst heiligt. Siddhartha glaubt an den Wert eigener Erfahrungen.
Das weltliche Leben: Siddhartha als Liebender und Kaufmann
Siddhartha wird zum Liebenden, als er die Kurtisane Kamala kennen lernt. Um ihrer würdig zu werden, muss er sich seinen Lebensunterhalt verdienen. Dazu wird er Mitarbeiter des Kaufmanns Kamaswami. Siddhartha wird selbst zum erfolgreichen Kaufmann, doch die innere Haltung des Kaufmanns bleibt ihm stets fremd. Ob die Geschäfte gut gehen oder weniger gut, berührt ihn kaum, er teilt nicht die Sorgen, die Ängste und den Erfolgshunger des Kaufmanns. Und doch passt sich Siddhartha im Laufe der Jahre dem weltlichen Leben an, er verfällt sogar dem Glücksspiel und gibt sich üppigen Mahlzeiten hin. Doch eines Tages hat er dieses Leben so satt, dass er sich einfach davonmacht.
Siddhartha und der Fährmann
Er trifft den weisen Fährmann wieder, der ihn einst über den Fluss gesetzt hatte, als er das Leben eines Samanas hinter sich ließ. Am Fluss erlebt Siddhartha seinen Tiefpunkt, die Leere und Sinnlosigkeit seines bisherigen Lebens, er möchte sich ins Wasser fallen lassen und sterben. An diesem Punkt öffnet sich sein Herz, das er im Laufe der Jahre mehr und mehr für höhere Impulse verschlossen hatte, und er erfährt Trost und Erhebung. Siddhartha lernt, dem Fluss zu lauschen, wie es der Fährmann seit vielen Jahren tut. Die beiden leben und arbeiten zusammen. Zwei Mal sieht er seinen Jugendfreund Govinda wieder, und auch seine ehemalige Geliebte Kamala.
Siddharthas Wunde: Sein Sohn
Bei ihrem letzten Liebesakt vor Siddharthas Abschied vom Kaufmanns-Leben zeugten Kamala und Siddhartha einen Sohn, von dem Siddhartha nichts wusste. Als Kamala zum Fluss kommt, um den sterbenden Heiligen Gotama zu besuchen, wird sie von einer Giftschlange gebissen und stirbt wenig später. Siddhartha und der Fährmann Vasudeva nehmen Kamalas und Siddharthas Sohn auf. Doch Siddhartha kann das Herz seines Jungen nicht gewinnen, wie viel Geduld und Liebe er ihm auch entgegen bringt. Schließlich flieht der Sohn – er muss seinen eigenen Weg gehen, ähnlich wie Siddhartha es tat.
Alle errungene Weisheit, alle Erkenntnisse und auch die guten Ratschläge des Fährmanns helfen Siddhartha in dieser Zeit nicht: Den Sohn zu verlieren, schmerzt ihn sehr und für lange Zeit. Doch irgendwann blüht auch diese Wunde auf, verwandelt sich, wird überwunden. Es gibt keinen Trick, um die Zeit der Heilung und Läuterung abzukürzen.
Der Weg zur Weisheit: Allein oder als Teil einer Gruppe?
Hesse macht mit diesem Meisterwerk deutlich, dass Weisheit nicht gelehrt und nicht weitergegeben werden kann – sie muss erfahren, selbst gelebt, selbst errungen werden. Die Wege zum eigenen Tiefpunkt und zur Preisgabe der Masken des Ichs sind so vielfältig und individuell wie die Menschen selbst. Im Siddhartha liegt der Schwerpunkt auf einem sehr individuellen Weg. Damit wird deutlich mit der Vorstellung gebrochen, ein Erleuchteter müsse über lange Zeit ein geheiligtes, sündeloses Leben führen und jegliche „Verunreinigung“ vermeiden. Im Gegenteil: Siddhartha bereut seine Zeit als Kaufmann, sein Versinken in sinnlicher Lust (sei es beim Liebesspiel oder beim Genuss üppiger Speisen) keineswegs. Er erkennt später, dass er diese Phase brauchte, um seine Vorstellung vom Priester in sich sterben zu lassen, gemäß dem Sinnspruch:
Es genügt, falsche Vorstellungen loszulassen. Richtige Vorstellungen brauchst Du nicht loszulassen, denn es gibt keine.
Ein ähnlicher Gedanke findet sich, noch extremer ausgearbeitet, beim dänischen Schriftsteller Anker Larsen im Stein der Weisen, wo ein Suchender zum Mörder wird und dennoch zum Höchsten durchbricht. Hier passt das Bild von dem Fass, das mit den Tropfen der Erfahrungen gefüllt wird. Wann es überläuft, kann niemand von außen beurteilen. Irgendwann wird jeder Sucher den letzten Tropfen der Erfahrung in sich aufgenommen haben, der noch nötig war, um in einen ganz anderen Lebenszustand eintreten zu können.
Die 10 Jahre später erschienene Morgenlandfahrt betont hingegen den Weg als Gruppe. In einer Gemeinschaft sich sehnender Seelen können läuternde Kräfte gemeinsam aufgerufen und verstärkt werden, gemäß den Worten Jesu: Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen. Wichtig erscheint mir, dass eine Gruppenzugehörigkeit an sich nicht befreiend wirkt, auch wenn die Gruppe noch so reine Absichten hat. Die Verwirklichung bleibt in der Verantwortung jedes Einzelnen. Das schließt mit ein, dass es auch als Teil einer Gruppe möglich sein muss, die individuellen Erfahrungen zu machen, die für den Einzelnen notwendig sind. Vergleiche den Beitrag: Strenge Regeln in spirituellen Gruppen / Der Andere als Spiegel.
Ralph McTell, bekannt vor allem mit Streets of London, hat Hesses Siddhartha mit dem Lied The Ferryman ein Denkmal gesetzt.
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