Welche magischen Rituale führen zur Befreiung? Gustav Meyrinks „Engel vom westlichen Fenster“
In Gustav Meyrinks „Der Engel vom westlichen Fenster“ suchen John Dee und seine Vorfahren John Roger und der Ich-Erzähler nach dem Stein der Weisen, dem Roten Löwen, der Unsterblichkeit. Im Roman sind die Zeitebenen Dees und des Erzählers verwoben, der Erzähler taucht immer tiefer in Dees Leben ein, das offenbar eine frühere Inkarnation seiner selbst war.
John Dee (eine historisch verbürgte Gestalt) hat allerlei magische Praktiken vollzogen – darunter Geisterbeschwörungen und insbesondere die Beschwörung des „Engels vom westlichen Fenster“. Dabei gab es zahlreiche Hinweise auf den befreienden Weg aus dem innereigenen Gefängnis. Es ist ein uraltes Thema: Der Kandidat ist nur für die Hinweise offen, die seinem Zustand, seinem Schwingungsschlüssel, seiner Erfahrungsreife entsprechen. Was noch nicht verinnerlicht wurde, muss persönlich erfahren, durchlebt werden.
John Dees Assistent: Der Gärtner
John Dee, bereits ein berühmter Gelehrter seiner Zeit, richtet sich ein alchymistisches Labor ein. Sein Assistent – bezeichnender Weise stellte er sich am Christtag vor – heißt Gardener. Er ist fleißig, treu und sehr fachkundig, doch bald stellen sich Unstimmigkeiten ein. Gardener ist mit Dees magischer Ausrichtung nicht einverstanden und hält die beschworenen Geister für betrügerische Wesen aus dem Jenseits. Gardeners Empfehlung: Vor solchen Irreführungen ist nur der sicher, der „den ganzen heimlichen Process der geistigen Wiedergeburt in seinem Innern durchgemacht hat“ (Abdruck nach Erstausgabe 1927, S. 211, Langen Müller).
Gardener verlässt John Dee, als klar ist, dass dieser noch nicht für das innere Gold einer reinen Seele reif ist.
In der Zeitebene des Erzählers taucht sein Freund auf, Theodor Gärtner, der deutlich mit Gardener in Beziehung gesetzt wird. Der Name verweist möglicher Weise auf die Arbeiter im Weingarten Gottes (siehe Matthäus 20, auch im Alten Testament bei Jesaja 27 findet sich ein ähnliches Bild). Gärtner bleibt etwas rätselhaft, zumindest wenn man ihn direkt als irdischen Menschen verstehen will: der „echte“ Gärtner, ein Chemiker, ist ertrunken. Vielleicht ein Bild dafür, dass er sich von der „äußeren Chemie“ abgewendet und dem inneren, seelisch-geistigen Gold zugewendet hat.
John Dees zweiter Assistent: Edward Kelley
Auch Kelley ist eine historisch belegte Gestalt. Er wird als gieriger, auf sinnlichen Genuss fixierter Mensch beschrieben, der zwar Geschick beim Beschwören des Grünen Engels beweist und sich bei Armut und Hunger gut durchzuschlagen weiß, aber das Gold verprasst, sobald Gelegenheit besteht.
Bereits bei der ersten Begegnung Kelleys mit John Dee spürt letzterer deutlich, dass sein Gegenüber nicht gerade mit den reinsten Absichten zu ihm kam. Als Dee wissen will, woher Kelley die Kugeln mit dem „Roten Löwen“ habe, dem Elixier, mit dem unreine Metalle in edles Silber und Gold verwandelt werden können, gelingt es Kelley schlecht, seine Lüge zu kaschieren. Schon hier konnte man ahnen, dass ein unreines Herz der höchsten Geheimnisse wohl nicht würdig sein würde.
Den Wechsel der Assistenten kann man innerlich deuten als eine Verschiebung der Seelenkräfte, mit denen Dee sein Ziel verfolgt. In der Magie des Anfangs standen ihm alle Türen offen. Er strebt zwar nach Höherem als Kelley, vermag aber die Kräfte, mit denen er sich verbindet, zu wenig unterscheiden, und lässt sich so auf zweifelhafte Kompromisse ein.
Der weise Rabbi in Prag: Über das Beten
In Prag arbeiten Dee und Kelley am Hof des greisen Kaisers Rudolf. Dee begegnet einem Rabbi, der als Adept (Eingeweihter) bezeichnet wird. Ähnlich wie Gardener verweist der Rabbi auf die nötige innere Reife (S. 314 ff.):
„Man soll nicht beten um den Stein, wenn man nicht weiß, was er bedeutet.“ –
„Der Stein bedeutet die Wahrheit!“ werfe ich ein.
[…] „Was denn sonst bedeutet der Stein?“„Das müssen Euer Ehren drinnen wissen, nicht auswendig!“ sagt der Rabbi.
Als Dee schließlich den Grünen Engel beschreibt, lacht der Rabbi nur, bis Dee ihn verwirrt verlässt.
Jane, die Ehefrau
Frau Fromm, die Haushälterin des Erzählers, ist offenbar eine Inkarnation von John Dees Ehefrau Jane. Ein kurzer Satz von ihr hat mich beeindruckt:
Wer seinem Weg gehorcht, wie kann der erschrecken? Angst fühlen kann doch nur einer, der sich seinem Schicksal entgegenstemmt.
Sexualmagie: Vajroli Tantra
Gegen Ende des Romans ringt der Erzähler noch mit der schwarzen Isais, mit erotischen Anziehungskräften, die ihn binden. Sein alter Freund Lipotin empfiehlt ihm eine asiatische magische Praxis: „Vajroli Tantra“. Schließlich erweist sich auch diese vermeintliche Hilfe als Falle (S. 501f.):
„Nun, hast Du die schwarze Isais besiegt?“
[…]„Nein.“
„So wird sie auch hierher in unser Reich kommen, denn sie ist beständig da, wo sie noch ein Recht einzufordern hat.“
Die Bänder der Angst ziehen wieder an: –
„Unmenschliches habe ich versucht!“„Ich kenne deine Versuche.“
„Meine Kraft ist zu Ende.“
„- Und du hast wirklich geglaubt, dass schwarze Kunst die Verwandlung bewirkt?“
„Vajroli Tantra?!“ rufe ich und starre Theodor Gärtner an.
„Ein letzter Gruß der Dugpas, dich zu zerstören! […]“
So wird ihm die Überwindung erst dann zuteil, als er mit seinen Kräften am Ende ist und endlich alle eigenen Versuche aufgibt. Erst dann können höhere Kräfte in ihn einströmen. Es gibt keine Tricks, keine Abkürzungen und keine Rituale, die diesen Zustand erzwingen können – nur ein reines Herz ist würdig, das Höchste zu empfangen und ihm zu dienen. (Vgl. Estas Tonnes Vertonung eines Gedichts von Peter Moore.)
Die Einweihung wird hier wiederum als Läuterungsprozess über mehrere Inkarnationen beschrieben, ähnlich wie im Roten Löwen. (In Goethes Faust und Anker Larsens Der Stein der Weisen wird hingegen nur ein stoffliches Leben beschrieben.)
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