Die spirituelle Seite des Karl May: Läuterung / Himmelsgedanken
Einer der bekanntesten Autoren aus dem Raum Dresden ist zweifellos Karl May (geboren 1842 in Ernsttal, heute Hohenstein-Ernsttal, gestorben 1912 in Radebeul). Er wohnte von 1883 bis 1888 in Dresden (in den Stadtteilen Blasewitz und Altstadt), anschließend an mehreren Adressen im heutigen Radebeul (Kötzschenbroda, Niederlößnitz, Oberlößnitz, sowie von 1895 bis zu seinem Tod 1912 in der heutigen Villa Shatterhand). Generationen von Kindern und Jugendlichen wuchsen mit seinen Romanen bzw. deren Verfilmungen auf.
Sein Lebenslauf liest sich wie ein Abenteuerroman: So wurden ihm Unterschlagung, Hochstapelei und Diebstähle zur Last gelegt; er führte jahrelang den Doktortitel, ohne je eine Universität besucht zu haben, und als Schriftsteller wurden ihm Plagiate vorgeworfen. Er erweckte den Eindruck, selbst der Held einiger Erzählungen gewesen zu sein, vor allem Old Shatterhand in den Indianerromanen sowie Kara Ben Nemsi in den Orientgeschichten. Tatsächlich bereiste er einige der darin beschriebenen Gegenden erst viel später.
1865 wurde er zu vier Jahren Arbeitshaus verurteilt (3,5 Jahre verbüßte er in Zwickau), von 1870 bis 1874 saß er im Zuchthaus Waldheim ein.
Diese Rahmendaten lassen nicht unbedingt einen ausgeprägt spirituellen Menschen vermuten (vielleicht ähnlich wie beim Berufsweg des erfolgreichen Profiboxers – siehe Muhammad Ali: Boxer, Großmaul, spiritueller Mensch?). May ist ein gutes Beispiel für die Entwicklungsmöglichkeiten, die ein Mensch hat; seine Reifung mag uns gemahnen, niemanden in eine Schublade zu stecken.
Karl May: Läuterung, spirituelles Spätwerk
In seiner Autobiografie „Mein Leben und Streben“ (erschienen 1910, zwei Jahre vor seinem Tod; als Sammelband 34 unter dem Titel „Ich“) schrieb May über seinen Gefängnisaufenthalt (S. 148 im Sammelband), wo er über Literatur nachdachte:
Da dämmerte in mir eine Erkenntnis auf. Sind nur die Bewohner der Strafanstalten detiniert [gefangen]? Ist nicht eigentlich jeder Mensch ein Gefangener? Stecken nicht Millionen von Menschen hinter Mauern, die man zwar nicht mit den Augen sieht, die aber doch nur allzu fühlbar vorhanden sind? Ist es nur für die Bewohner der Strafanstalten der Leib, der gebändigt werden muss, damit der höhere, von oben stammende Teil unseres Wesens zur Geltung kommen möge? Muss nicht überhaupt bei allen Sterblichen, also bei der ganzen Menschheit, alles Niedrige gefesselt werden, damit die hierdurch die Freiheit gewinnende Seele sich zum höchsten irdischen Ideale, zur Edelmenschlichkeit, erheben könne? Und sind es nicht die Religion, die Kunst, die Literatur, die uns aus solcher Tiefe zu solcher Höhe führen sollen? Die Literatur, der auch ich, der an die enge Zelle geschmiedete Gefangene, mit angehöre!
Ein literarisches Ergebnis dieser Läuterung findet sich in seinem Spätwerk Himmelsgedanken (erschienen 1900). Hier das Gedicht Läuterung:
Geh hin, und schau in dich hinein
Bis in die tiefsten Herzensfalten;
Dann stellt sich die Erkenntnis ein:
Du musst dich gänzlich umgestalten.
In Gottes Buche steht ein Wort:
„Es sei denn, du wirst neu geboren,
So sinkst du hier und bist für dort
Und für die Seligkeit verloren.“
Geh hin, und bitte Gott, den Herrn,
Er wolle gnädig dir verzeihen.
Er tut es; ja, er tut es gern,
Ob auch der Fehler viele seien.
Doch wer vielleicht sich darauf stützt,
Dass Gottes Gnade Alles wende,
Und seine Zeit und Kraft nicht nützt,
Für den geht plötzlich sie zu Ende.
Geh hin, und sündige nicht mehr;
Dir wird sehr viel, sehr viel vergeben.
Wird dir die Läuterung zu schwer,
So fehlt der Ernst, sie zu erstreben,
So sehr du dich dagegen bäumst,
Zum Scherz bist du hier nicht auf Erden,
Und Alles, was du jetzt versäumst,
Muss nachgeholt, gebüßt einst werden!
Vor dem Hintergrund von Karl Mays Biografie haben mich diese Zeilen besonders berührt. Es wird ein Spannungsfeld deutlich, das typische „Sowohl – als auch“, das für den rationalen Verstand zuweilen widersprüchlich klingen mag. Hier zeigt es sich in den Aspekten der Gnade (siehe auch den Beitrag zu Bob Dylans Saving Grace), die dem Menschen geschenkt werden kann, und der Notwendigkeit, aktiv nach Läuterung zu ringen.
Karl Mays Werke wurden von verschiedenen Verlagen mehr oder weniger stark bearbeitet. Die Erstausgaben entsprechen eher der ursprünglichen Fassung.
Eine gute Gelegenheit für Karl-May-Fans, ihren Blick auf den Autor zu erweitern!
Karl May: Himmelsgedanken – Gedichte
Rosenkreuzer in Bremen haben sich intensiv mit Karl Mays spiritueller Seite beschäftigt und zwei Veranstaltungen dazu entwickelt, die vielleicht mal wiederholt werden, in Bremen oder andernorts:
Eine umfangreiche Informationsquelle zu Karl May ist das Karl-May-Wiki.
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