Der Einweihungsweg: Leonard Cohens Ballad of the Absent Mare
Es gibt viele Songs, die spirituelle Aspekte enthalten. Leonard Cohens Ballad of the Absent Mare nimmt eine Sonderstellung ein, da der Song weit über einzelne Aspekte hinausgeht und gleichsam ein Kompendium des gesamten spirituellen Weges beschreibt: Angefangen vom Sucher bis hin zur Erleuchtung und Befreiung und neuer Arbeit in der Welt. Das Lied findet sich auf dem 1979er Album Recent Songs.
Leonard Cohen bezieht sich darin auf Die zehn Ochsenbilder (auch bekannt als Der Ochse und sein Hirte) aus der chinesischen Tradition des Chan-Buddhismus. Cohen machte daraus eine etwas modernere Cowboygeschichte – aus dem Ochsen wurde eine Stute. Der Zyklus beginnt mit der Suche nach dem verlorenen Tier:
Die Suche beginnt
Say a prayer for the cowboy
His mare’s run away
And he’ll walk til he finds her
His darling, his stray
Wie so manche Erzählung über Verlust und Liebe, lässt sich auch diese auf verschiedene Ebenen beziehen. Manche sehen ein Gleichnis vom verlorenen und wiedergefundenen Partner. Aus spiritueller Sicht hat der Erzähler den Kontakt zu seinem eigenen Innersten, seinem Seelenkern, verloren. Wann das geschah, wird nicht ausgesprochen – vielleicht schon vor langer Zeit. Wichtig ist jetzt nur, dass er sich des Verlustes bewusst wurde, dass er zum Sucher geworden ist.
But the river’s in flood
And the roads are awash
And the bridges break up
In the panic of loss.
Doch die Suche gestaltet sich schwierig: Alles ist in Aufruhr. Vielleicht ist der Fluss ein Bild für das Blut; Straßen und Brücken sind zerstört, so wie die ursprüngliche Verbindung zwischen Herz und Haupt. So ist er zunächst orientierungslos, ja verzweifelt („panic of loss“; zweite Strophe: „And the night is all wrong“).
Dann zeigt sich die erste Ahnung:
Erste Ahnung: Seelenkontakt
Did he dream, was it she
Who went galloping past
And bent down the fern
Broke open the grass
And printed the mud with
The iron and the gold
That he nailed to her feet
When he was the lord
War es ein Traum? Die Ur-Erinnerung kehrt zurück: Es gab eine Zeit, da sich die Stute ihm fügte. Jetzt findet er zumindest Spuren …
Er weiß noch nicht, wie nahe ihm die Stute tatsächlich ist, und sucht sie überall:
And although she goes grazing
A minute away
He tracks her all night
He tracks her all day
Der Seelenkern ist im Menschen selbst verborgen und damit “näher als Hände und Füße”. Er wird nur deshalb nicht erkannt, weil der Mensch dafür blind geworden ist („Oh blind to her presence“). Mit dem Verstand lässt sich die Seele nicht fassen. Doch er meint es ernst mit der Suche. Eine Vogelstimme öffnet sein Herz („A songbird sings out“), sein Zustand verändert sich deutlich gegenüber dem anfänglichen Chaos mit den zerstörten Wegen:
Ein veränderter Seinszustand
Ah the sun is warm
And the soft winds ride
On the willow trees
By the river side
Nun kann er die Stute endlich wahrnehmen.
Oh the world is sweet
The world is wide
And she’s there where
The light and the darkness divide
Sie befindet sich genau an der Grenze zwischen Licht und Dunkelheit. Um sie zu fangen, muss der Sucher selbst zum Grenzgänger werden.
In rosenkreuzerischer Symbolik ist das der Schnittpunkt des Kreuzes: die Stelle, an der der horizontale Balken des irdischen Lebens vom vertikalen Balken der höheren Lebenssphäre getroffen wird. Dort befindet sich die Rose, also die Stelle im Menschen, die für diese Impulse empfänglich ist – der Ort, an dem die Stute grast.
And the steam’s coming off her
She’s huge and she’s shy
And she steps on the moon
When she paws at the sky
Bewusster Seelenkontakt
Die Stute ist kein irdisches Wesen – sie bewegt sich in himmlischen Sphären (wobei Cohen nicht das religiöse heaven verwendet, sondern von sky und moon spricht).
Nun muss sie gefangen werden. Das ist nicht einfach – ihre Sehnsucht zieht sie weg von der schweren Erde.
And she comes to his hand
But she’s not really tame
She longs to be lost
He longs for the same
And she’ll bolt and she’ll plunge
Through the first open pass
To roll and to feed
In the sweet mountain grass
Zweifaches Opfer
Für die ursprüngliche Seele ist es ein Opfer, sich mit dem irdischen Leben und einer irdischen Persönlichkeit zu verbinden („time for the burden“ – sie muss den Reiter tragen und seine Launen und seine Grobheit ertragen – „time for the whip“).
Doch es gibt keine Alternative. Die Seele kann ohne die Hilfe der irdischen Persönlichkeit nicht aus dem Kreislauf von Geburt, Tod und Wiedergeburt entkommen, sie ist an das Leid der Vergänglichkeit gebunden, auch wenn sie selbst prinzipiell unsterblich ist. Und die Persönlichkeit erkennt ihre Aufgabe, der Seele zu helfen. Das Opfer der Persönlichkeit besteht darin, ihr eigenes Streben in dieser Welt preiszugeben und sich einem neuen Ziel anzuvertrauen. Beide können nicht anders, als sich zu verbünden.
So he binds himself
To the galloping mare
And she binds herself
To the rider there
Das führt zu einem nahezu unmöglichen Zustand: Das Unvergängliche bindet sich an das Vergängliche.
And there is no space
But there’s left and right
And there is no time
But there’s day and night
In diesem Zustand lebt der Mensch zwei Leben: Er muss weiterhin den Naturgesetzen der vergänglichen Welt folgen, bleibt an Raum und Zeit gebunden. Gleichzeitig blüht in ihm ein Wesen auf, das sich darüber erheben kann und in dessen wahrer Heimat Begriffen wie links, rechts und Zeit keine Bedeutung zukommt. Die bewusste Entscheidung für diese Verbindung ist das Zähmen. (Der kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry zähmt ebenfalls ein Tier, einen Fuchs, und übernimmt damit Verantwortung.)
Die Heimkehr
Nun beginnt die Heimkehr. Beide haben sich ganz bewusst und freiwillig entschieden – nun gibt es kein Fangen und Fliehen mehr, keine Grobheiten, keine unterschiedlichen Ziele. Sie sind eins geworden.
And he leans on her neck
And he whispers low
„Whither thou goest
I will go“
And they turn as one
And they head for the plain
No need for the whip
Ah, no need for the rein
In der Symbolik des Ochsen wird das gezähmte Tier mit dem gezähmten Ego, dem vom Schöpfungsplan abgesonderten Eigenwillen, in Verbindung gebracht.
Die weiteren Phasen auf dem Weg lassen sich immer schwerer in Worte fassen. Die beiden verschmelzen, sind kaum noch zu unterscheiden. Cohen wird lyrischer und etwas vager – er beschreibt die Liebe als „Rauch, der nicht repariert werden kann“. Vielleicht ein Bild dafür, dass schon eine Transformation stattgefunden hat: Etwas Altes ist verbrannt – nun gibt es keine Rückkehr mehr in den früheren Zustand. Aus dem Rauch kann man die ehemalige Form nicht wieder herstellen.
Now the clasp of this union
Who fastens it tight?
Who snaps it asunder
The very next night
Some say the rider
Some say the mare
Or that love’s like the smoke
Beyond all repair
Transfiguration: Die Verwandlung
Die Bilder 7 bis 9 des Zyklus deuten eine vollkommene Verwandlung an.
In der Bibel wird der Prozess als Transfiguration beschrieben (Matthäus 17, Markus 9, Lukas 9). Der Begriff, den auch Rosenkreuzer verwenden, findet sich in z. B. in lateinischen, französischen und englischen Ausgaben – Luther übersetzte ihn mit „Verklärung“.
Die Natur liefert mit der Entwicklung der Raupe zum Schmetterling ein herrliches Bild dafür. Das mag all jene trösten, die sich für unwürdig halten: Es ist nicht das unvollkommene, fress-süchtige Wesen, das vergöttlicht wird. Die dicke Raupe mit ihren dünnen Härchen wird niemals fliegen können, auch wenn sie die Sehnsucht dazu in sich empfindet. Und sie muss es auch nicht: Sie ist nur der Wegbereiter für eine vollkommen neue Gestalt. Im Kokon werden die alten Strukturen aufgelöst. Für den daraus entstehenden Schmetterling ist Fliegen eine Selbstverständlichkeit.
Am Ende deutet Cohen an, dass alles in ihm selbst stattgefunden hat und nicht in der Prärie vor ihm.
But my darling says
„Leonard, just let it go by
That old silhouette
On the great western sky“
So I pick out a tune
And they move right along
And they’re gone like the smoke
And they’re gone like this song
Der chinesische Zyklus endet nicht mit dem Entschwinden im Nirwana. Im Gegenteil:
Rückkehr mitten unter die Menschen
„Und der Hirte kommt herein in die Stadt und auf den Markt und beschenkt alle ringsum (10. Bild). Der Erleuchtete lebt mit allen seinen Mitmenschen und wie alle seine Mitmenschen, aber die Güte, die er ausstrahlt, rührt von seiner Erleuchtung her.“ (Quelle: Heinrich Dumoulin: Geschichte des Zen-Buddhismus. Band I: Indien und China. Francke-Verlag, Bern 1985, S. 261 ff.)
»Hallelujah«, Leonard Cohen!: Wie Leonard Cohen Gott lobte, Jesus suchte und unsere Herzen berührt
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7 Antworten
[…] eine unnatürliche Verbindung sterblicher und unsterblicher Aspekte, was sehr inspirierend in Leonard Cohens Ballad of the Absent Mare beschrieben […]
[…] ähnliches Bild hat Leonard Cohen in Ballad of the Absent Mare beschrieben. Anfangs ist alles in Aufruhr: Ein Fluss tritt über die Ufer, Straßen sind […]
[…] spirituellen Pfad, der in der Transfiguration gipfelt, vergleiche den Beitrag zu Leonard Cohens Ballad of the Absent […]
[…] Das erhabene Göttliche ist auf das unwürdige Irdische angewiesen. Cohen hat das auch in Ballad of the Absent Mare in eindrucksvolle Bilder […]
[…] Cat Stevens: Catch Bull at Four, mit dem er sich auf die 10 Ochsenbilder bezieht, die auch Leonard Cohen besungen hat […]
[…] Christlich-esoterisch gesehen, symbolisiert Neals Entscheidung gegen die beiden Möglichkeiten das Kreuz. Der horizontale Balken steht dabei für die Welt der Gegensätze; der vertikale Balken durchkreuzt diese Welt und ermöglicht eine Verbindung zu einer höheren Sphäre. Der Mensch mit ausgebreiteten Armen ist wie ein Kreuz, sein Herz liegt im Schnittpunkt des horizontalen und des vertikalen Balkens. Siehe den Beitrag zu Leonard Cohens Ballad of the Absent Mare. […]
[…] Verbindung zwischen Persönlichkeit und Seele siehe auch die Beiträge über Leonard Cohens Ballad of the Absent Mare und Bob Dylans Changing of the […]