Leonard Cohen: Avalanche aus spiritueller Sicht

Leonard Cohens Avalanche hat mich beim ersten Hören, und danach immer wieder, beinahe umgehauen. Ich empfand, dass hier eine Ebene angesprochen wird, die mein Fassungsvermögen übersteigt. Etwas an dem Song faszinierte mich auf eine fast morbide Weise. Er weckte Gefühle des Ausgeliefertseins an eine höhere Macht.

Der Song wurde 1971 auf dem Album Songs of Love and Hate veröffentlicht.

Leonard Cohen singt Avalanche

Die Kunst eines spektakulären Liedanfangs

Well I stepped into an avalanche
It covered up my soul

Ich geriet in eine Lawine – sie verschüttete meine Seele. Wow! Das klingt dramatisch, und es ist eindrücklich klar, dass es um einen inneren Prozess geht.

Der Anfang erinnert mich ein wenig an Bob Dylans Señor (Tales of Yankee Power) mit den ähnlich packenden Worten Señor, Señor, Can you tell me where we’re heading / Lincoln Country Road or Armageddon …

Krümel der Liebe – einer höheren Macht ausgeliefert

Zwei weitere Zeilen aus Avalanche, die mich besonders trafen, lauten:

The crumbs of love that you offer me
They’re the crumbs I’ve left behind

Die Krumen der Liebe, die du mir anbietest, sind genau die Krümel, die ich liegen ließ. Hier kann man nicht gerade von einem Dialog auf Augenhöhe sprechen: Während der eine glaubt, einen Schatz gefunden zu haben, und ihn großzügig weiterschenken will, spricht der andere von nicht mehr brauchbarem Müll.

Als ich begann, mich intensiver mit Spiritualität zu beschäftigen, formte sich in mir das Bild von einem Niederen und einem Höheren Selbst. Ersteres ist das, was wir üblicherweise als Mensch kennen: die Gestalt, die mehr oder weniger unbewusst durch das Leben stolpert, mit ihren Zielen, Wünschen, Gedanken, Gefühlen … Das Höhere Selbst hingegen birgt die Erfahrungen vieler (Re-)Inkarnationen, an die sich der Mensch mit seinem Tagesbewusstsein in aller Regel nicht erinnert. Dieser Erfahrungsschatz umgibt den Menschen wie eine magnetische Kugel und prägt als Karma seinen Charakter, seine Vorlieben und Ängste. Wenn diese magnetische Kugel (manche nennen sie Mikrokosmos) mal den Tod eines Bewohners durch Ertrinken erlebt hat, wird der nächste sich im tiefen Wasser eher nicht so pudelwohl fühlen.

Dieses Höhere Selbst überdauert zwar den Tod des Stoffkörpers, ist aber nicht göttlich. Auf einem befreienden Weg werden die magnetischen Bindungen nach und nach gelöst und das Höhere Selbst somit aufgelöst – daher kann es einem derartigen Streben durchaus Widerstand entgegensetzen. Ein sehr anschauliches Bild dafür ist der Regisseur im Film Truman Show.

Genug der Theorie – jedenfalls dachte ich lange beim Hören von Avalanche, hier spreche das Höhere Selbst, und zwar auf eine eher unangenehme (wenn auch realistische) Weise; und so fand ich den Song zwar gut und tiefgreifend, aber auch beklemmend.

Hier eine sehr intensive Version von Nick Cave. Ist Geschmackssache – man mag sie für übertrieben halten – ich kann ihr schon was abgewinnen, weil Cave sich so voll und ganz dem Song hingibt.

Nick Cave mit einer sehr intensiven Interpretation von Cohens Avalanche

Der Sprecher als innereigenes göttliches Wesen

Kürzlich hörte ich einige neuere Nick Cave-Songs, darunter Auszüge aus den L.I.T.A.N.I.E.S., und entdeckte eine sehr spirituelle Seite des Künstlers, die – für mich – in gewissem Kontrast zu den Murder Ballads steht. Vor diesem Hintergrund ließ ich mich noch mal neu auf Avalanche ein. Jetzt erscheint es mir stimmiger, den Sprecher als innereigenes göttliches Wesen aufzufassen. Aus dieser Perspektive verliert das Werk weitgehend seinen beklemmenden Charakter und wird zu einer Anleitung für einen praktischen spirituellen Weg. Bin gespannt, was Ihr von dieser Sicht haltet.

Gemäß Goethes geflügeltem Wort von den zwei Seelen in meiner Brust sehe ich den Menschen als Doppelwesen: irdisch und göttlich. Der göttliche Aspekt ist zwar prinzipiell frei von allem Niederen, aber doch mit einem fleischlichen Zweibeiner verbunden. Er wartet und hofft von Inkarnation zu Inkarnation darauf, dass ein Bewohner des Mikrokosmos auf seine leise Stimme hört, sich ihm anvertraut und der Verwandlung des gesamten Wesens zurück zur ursprünglichen Herrlichkeit den Weg bereitet. In dieser Gefangenschaft ist das göttliche Wesen also auf die Mithilfe des Menschen angewiesen. Die ursprüngliche Herrlichkeit besteht nicht mehr, das Göttliche ist zu einem Überbleibsel verkümmert.

Hunchback: Der Bucklige spricht zum irdischen Menschen

Cohen verwendet das Bild des Buckligen, an einer Stelle auch als Krüppel bezeichnet. Im Wachzustand des irdischen Menschen bleibt der Handlungsspielraum des göttlichen Anteils arg eingeschränkt. Die dritte und vierte Zeile deuten jedoch an,

When I am not this hunchback that you see
I sleep beneath the golden hill

dass er nachts Inspiration aus einer höheren Sphäre („goldener Berg“) erhält. Um weiter zu genesen, bedarf er unirdischer Nahrung. Der Sucher fühlt sich bereits gerufen – sonst gäbe es gar keine Kommunikation zwischen den beiden. Er versteht jedoch nicht, wie er dem verkümmerten göttlichen Samen wirklich helfen kann. Was mir früher beklemmend vorkam, verstehe ich jetzt als nüchterne Hinweise für eine spirituelle Lebenshaltung.

Schmerz und Leid / Zum Diener werden

Eine wesentliche Voraussetzung erfüllt der Sucher bereits: Er wird sich seines Leidens mehr und mehr bewusst und sucht nach einer Lösung. Diese besteht jedoch nicht im Eintritt in ein irdisches Paradies, in dem alles Unangenehme verschwindet und alle irdischen Wünsche sich wohlgefällig erfüllen. Vielmehr geht es um Dienstbarkeit: Der Mensch muss seine Aufgabe erkennen – dem göttlichen Anteil hingebungsvoll zu dienen.

You who wish to conquer pain
You must learn, learn to serve me well

You who wish to conquer pain
You must learn what makes me kind

Später heißt es zum Schmerz:

Your pain is no credential here
It’s just the shadow, shadow of my wound

Ein Sucher, der an der Welt leidet, mag das für ein Zeichen der Reife halten und womöglich noch darauf stolz sein. Doch für Stolz besteht nicht der geringste Grund. Es liegt nichts Befreiendes darin, von der Welt enttäuscht zu sein, weil man nicht das bekommt, was man will. Ein befreiender Aspekt tritt dann hinzu, wenn der Mensch erkennt, dass nicht er leidet, sondern der göttliche Aspekt in ihm. Bestenfalls empfängt der Mensch eine Ahnung („Schatten“) dieses höheren Leidens. Wenn es gut steht, öffnet er sich dann für höhere Kräfte.

Dazu gehört, viele falsche Vorstellungen preiszugeben. Das Göttliche lässt sich nicht mit irdischen Errungenschaften abspeisen, es bedarf anderer Nahrung und anderer Gewänder. Nur wenn irdisches Streben zurücktritt, können die feinen göttlichen Energien durchdringen, den Krüppel heilen und allmählich ein Seelenkleid weben. Andeutungen für ein derartiges unstoffliches Gewand finden sich unter anderem in Aviciis Wake Me Up, Harry Styles‘ Sign of the Times und Bob Dylans Isis sowie sehr ausführlich in Scarborough Fair (bekannt in der Version von Simon & Garfunkel).

You strike my side by accident
As you go down for your gold
The cripple here that you clothe and feed
Is neither starved nor cold
He does not ask for your company
Not at the centre, the centre of the world

Die Berührung erfolgt zunächst unbewusst, während der Mensch dem irdischen Gold nachjagt. Doch der Ewigkeitsanteil ist nicht in dieser Welt zuhause (Jesus: Mein Reich ist nicht von dieser Welt).

Hier eine nüchternere Fassung von Nick Cave:

Das Podest: Falsche Anbetung und Nüchternheit

When I am on a pedestal
You did not raise me there
Your laws do not compel me
To kneel grotesque and bare
I myself am the pedestal
For this ugly hump at which you stare

Wenn ich auf einem Podest stehe, dann nicht, weil Du mich dort hingestellt hast. Für mich gelten andere als die irdischen Gesetze – ich muss hier nicht so unbeholfen niederknien. Mit anderen Worten: Jesus will nicht, dass wir ihn anbeten, sondern dass wir ihm nachfolgen – es geht um nüchterne, praktische Verwirklichung, nicht lähmende Ehrfurcht. Das verkümmerte Überbleibsel aus der Ewigkeit selbst ist der Sockel, auf dem das Ewigkeitswesen in vollem Glanz wiederaufgebaut wird.

Das innereigene Göttliche bedarf der Hilfe des irdischen Menschen

Nun, da der Sucher, wie stümperhaft auch immer, wenigstens versucht, am Prozess mitzuarbeiten, entsteht eine nahezu unmögliche Situation: Das erhabene Göttliche ist auf das unwürdige Irdische angewiesen. Cohen hat das auch in Ballad of the Absent Mare in eindrucksvolle Bilder gefasst.

I have begun to long for you
I who have no greed
I have begun to ask for you
I who have no need
You say you’ve gone away from me
But I can feel you when you breathe

Der Mensch mag glauben, unendlich weit vom Göttlichen entfernt zu sein. Doch es wohnt in ihm, es ist näher als Hände und Füße: „ich fühle, wenn Du atmest“.

Werde nüchtern! Weder Selbstmitleid noch Übertreibung sind gefragt

Do not dress in those rags for me
I know you are not poor
And don’t love me quite so fiercely now
When you know that you are not sure
It is your turn, beloved
It is your flesh that I wear

Wenn der Sucher seine Unwürdigkeit einsieht und schmerzlich erfährt, hilft es nicht, sich deshalb klein zu machen. Eines der bekanntesten Zitate, das häufig Nelson Mandela zugeschrieben wurde, lautet: Unsere tiefste Angst ist nicht, daß wir unzulänglich sind, unsere tiefste Angst ist, daß wir unermesslich machtvoll sind. Es ist unser Licht, das wir fürchten, nicht unsere Dunkelheit.

Offenbar ist dieses Zitat in keiner seiner Reden enthalten, es stammt aus “A Return to Love” (1989) von Marianne Williamson.

Doch auch Übertreibung, überschäumend zur Schau gestellte Hingabe ist nicht zielführend. Der Mensch ist schwach und kann jederzeit fallen – es geht darum, mit klar-nüchternem Blick auf den eigenen Zustand offen für Impulse aus dem Innersten zu bleiben.

„Ich trage Dein Fleisch“ – ein weiterer eindrücklicher Anstoß zum Umdenken. Ein Sucher mag seinen Weg mit dem Gedanken antreten, neben allen bereits erworbenen Vermögen nun auch noch ein erweitertes Seelenbewusstsein zu gewinnen. Doch es ist umgekehrt: Der Körper ist ein Aspekt der göttlichen Seele. Er ist nützlich, wenn er den ihm gebührenden Platz anerkennt und nicht mehr sein will, als ihm zusteht. (Siehe auch den Beitrag Hermes zum Verhältnis von Körper und Seele.)

So gesehen ist es am Anfang des Songs nicht der irdische Mensch, der unter eine Lawine gerät (wie ich lange Zeit annahm). Der Sprecher bleibt meines Erachtens über alle Strophen der gleiche. Es ist also der göttliche Anteil, der fast vollständig verschüttet wird und seine Seelenflügel nicht mehr frei entfalten kann. Wir als irdischer Mensch sind nicht Opfer der Umstände, sondern Schöpfer unserer ungöttlichen Welt – wir haben die Verbindung zu unserem innersten Wesenskern gekappt.

It is your turn, beloved – es ist keine ausbeuterische, überlegene Macht, die hier spricht, sondern ein liebevoller Verbündeter, der dem Sucher hilft, seine Aufgabe zu erfüllen, und ihn dazu anspornt – auch wenn dem Menschen nicht jeder Hinweis schmecken mag.

Hier noch eine Coverversion. Janileigh Cohen ist meines Wissens nicht mit Leonard Cohen verwandt.

Janileigh Cohen singt Leonard Cohens Avalanche

Es gibt auch eine 2020er Version von Aimee Mann.

Leonard Cohen: Songs of Love and Hate

»Hallelujah«, Leonard Cohen!: Wie Leonard Cohen Gott lobte, Jesus suchte und unsere Herzen berührt

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3 Antworten

  1. Dieter Wirth sagt:

    Vielen Dank für Ihren inspirierten und mich inspirierenden Kommentar. Ich will Ihnen per Email zur Diskussion einige Seiten an Bemerkungen und Fragen zusenden. – Beste Grüße, Dieter Wirth

  1. 14. September 2024

    […] erinnern mich an das Bild vom Menschen als Mikrokosmos (siehe Beiträge über Bob Dylans Señor und Leonard Cohens Avalanche) – eine kleine Welt. Eine magnetische Kugel umgibt den Menschen wie ein Firmament, in dem das […]

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