Bob Dylan: Señor – Selbsteinweihung
Bob Dylan’s Señor (Tales of Yankee Power) habe ich erst vor kurzem für mich „entdeckt“, obwohl es als Single auf der B-Seite von Changing of the Guards veröffentlicht wurde, über das ich bereits geschrieben habe, sowie auf dem 1978er-Album Street Legal, das auch Love in Vain enthält.
Hier eine Aufnahme von 1987:
Es gibt zahlreiche Coverversionen, unter anderem von Willie Nelson (auch mit Calexico), der Jerry Garcia Band, Tim O’Brien, und sehr vielen etwas weniger bekannten Künstlern, darunter Blue Grass-Bands.
Wer deutsche Texte bevorzugt, dem sei die Version von Peter Post empfohlen, die mir sehr gut gefällt – sowohl hinsichtlich der (nicht einfachen!) Übersetzung als auch musikalisch mit der beeindruckenden Intensität (siehe weiter unten).
Einweihung im Laufe der Zeiten
Auf Wikipedia wird der Song beschrieben als „Fragen eines Jüngers an seinen Meister, wohin seine Reise eigentlich gehen solle“. Da ist sicher was Wahres dran. Wer sind Jünger und Meister?
Meines Erachtens haben sich Einweihungsprozesse im Laufe der Zeiten verändert, entsprechend der Weiterentwicklung der Menschheit. Starke Abhängigkeiten zwischen Schüler (Jünger) und Meister funktionieren immer weniger, es geht immer mehr um Selbstverantwortung und damit auch Selbsteinweihung. Aus dieser Perspektive möchte ich den Song betrachten als Dialog eines Ringenden im eigenen Inneren: Figuren und Schauplätze symbolisieren Aspekte des eigenen Wesens.
Señor, señor
Can you tell me where we’re headin‘?
Der Sucher wendet sich an den „Herrn“ (auch: Gebieter, Besitzer) – wohin geht die Reise? Er sucht Orientierung. Das heißt: Er lebt nicht mehr nach persönlichen Vorstellungen, lässt sich nicht mehr von Begierden, Wünschen und Ehrgeiz treiben – er ist bereit, sich der inneren Führung anzuvertrauen.
Songthemen und Interpretationsansätze
Lincoln County Road or Armageddon?
David Weir von Bob Dylan Song Analysis verweist auf Sam Peckinpahs Film Pat Garrett And Billy The Kid, für den Bob Dylan die Musik schrieb (inklusive des berühmten Knockin‘ on Heaven’s Door, das für Eric Clapton und Gun’s N‘ Roses zum Hit wurde) und in dem Dylan sogar eine Rolle spielte. Der Film spielt auf den Lincoln-County-Rinderkrieg im 19. Jahrhundert an. Laut Bob Dylan Song Analysis bilden damit Rache einerseits (der Erzähler als Billy the Kid) und Christus andererseits (ebenfalls der Erzähler als Sohn des Herrn) das Thema, um das der Song kreist.
Ich möchte historische Bezüge beiseite lassen und den Song als inneres Geschehen auffassen. Aus dieser Perspektive sehe ich Lincoln County Road als weltlichen Aspekt (sei es geografisch oder als Bild für Konflikte: jedenfalls geht es um Irdisches), Armageddon (Harmagedon, siehe Offenbarung des Johannes) als Bild für eine radikale Abkehr vom Bisherigen, als Untergang des alten Lebens, um Raum für eine fundamentale Verwandlung zu schaffen. Es geht also um eine sehr grundsätzliche Lebensentscheidung: Weiter auf den alten Bahnen, oder bereit für etwas gänzlich Neues?
Sehnsucht nach Seelenverbindung
Seems like I been down this way before
Is there any truth in that, señor?
Der Wahrheitssucher steht nicht zum ersten Mal an diesem Punkt – offenbar ist er reif für den nächsten Schritt. Es mag offen bleiben, ob es um erfolglose Versuche in diesem Leben geht oder ob er sich auch auf die Suche seiner Vorgänger bezieht: frühere Inkarnationen.
Señor, señor
Do you know where she is hidin‘?
How long are we gonna be ridin‘?
How long must I keep my eyes glued to the door?
Will there be any comfort there, señor?
Wer ist „sie“? Versteht man die Suche innerlich, dann sehnt er sich nach lebendiger Seelen-Verbindung. Nichts Äußeres bietet mehr Trost, er sucht den Zugang zu einem anderen Lebenszustand.
Zerrissenheit, Unruhe, Spannung
Während die Sehnsucht ihn führt, fühlt er sich noch innerlich zerrissen – die Tür hat sich für ihn noch nicht geöffnet.
There’s a wicked wind still blowin‘ on that upper deck
There’s an iron cross still hanging down from around her neck
There’s a marchin‘ band still playin‘ in that vacant lot
Where she held me in her arms one time and said, „Forget me not“
Das Oberdeck kann ein Bild für den Kopf sein. Man kann an den Obersaal denken, wie zum Beispiel im Lukasevangelium 22, 7-13 erwähnt. Ein wesentlicher Schritt auf dem spirituellen Weg ist die Herz-Haupt-Einheit. Die Impulse des Neuen Lebens werden zuerst im Herzen empfangen. Dann geht es darum, den Willen und die Gedanken darauf abzustimmen.
Auf dem Oberdeck bläst noch ein „böser Wind“ – chaotische, unkontrollierte Gedanken ziehen durch das Bewusstsein.
Das eiserne Kreuz, das um „ihren“ Hals hängt, kann auf die noch zu starke materielle Ausrichtung des Menschen verweisen – die lebende Seele ist noch nicht befreit, sie kann sich noch nicht frei entfalten. Das eiserne Kreuz ist eine starre Karikatur des lebenden Kreuzes, das im erwachenden Menschen errichtet wird: Er empfängt die Impulse der höheren Sphäre (vertikaler Balken) und trägt sie in seinem Leben auf der Erde aus (der horizontale Balken).
Der Platz, den die Neue Seele einnehmen soll, wird noch von einer „Blaskapelle“ (marchin‘ band) besetzt, die vielleicht für allerlei Ablenkungen steht, die das alte Leben zu bieten hat und die immer noch Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Immerhin ist dem Sucher bewusst, dass es um einen ganz anderen Zustand geht, den sein Innerstes bereits kennt: Einst hielt sie ihn in ihren Armen. Er erinnert sich an die verlorene Einheit. Die Sehnsucht wird stärker.
Señor, señor
I can see that painted wagon
Smell the tail of the dragon
Can’t stand the suspense anymore
Can you tell me who to contact here, señor?
Der Drache ist ein Fabelwesen: Er erinnert an eine Welt der Märchen und Mythen, die über die materielle Sphäre hinausweist. Sie kann einerseits die Seele über Bilder und Symbole berühren und mag andererseits vom nüchternen Verstand als irreal, als Traumwelt beiseite geschoben werden. Der Sucher erfährt immer deutlicher die Spannung (suspense) zweier Welten und ringt um einen innerlichen Kontakt, der über den Ruf und die Berührung hinausgeht und ihn aus der Spannung in neue Harmonie führt.
Demut und Verschiebung des Lebensschwerpunktes
Well, the last thing I remember before I stripped and kneeled
Was that trainload of fools bogged down in a magnetic field
A gypsy with a broken flag and a flashing ring
He said, „Son, this ain’t a dream no more, it’s the real thing“
Immer stärker vertraut er sich nun dem inneren Rufen an. Er legt seine alten Kleider ab – häufig im spirituellen Kontext ein Bild für den alten Lebenszustand, die feinstofflichen Körper (vergleiche etwa die Beiträge zu Scarborough Fair, Harry Styles‘ Sign of the Times sowie Avicii: Wake Me Up). Er kniet nieder, das heißt er erkennt seinen unwürdigen Zustand immer deutlicher und ist bereit, seinen Willen an das Seelenprinzip in ihm zu übertragen.
Nun nimmt er die Welt um sich herum mit anderen Augen wahr. Immer klarer erfährt er den Kontrast zwischen dem irdisch orientierten Leben und dem Seelenfeld. Die Menschen, die noch nicht bereit zum Abschied vom Alten sind, werden gleichsam magnetisch festgehalten: sie reagieren auf weltliche Themen, seien es Ängste oder Verlockungen, und verpassen es so, den Seelenimpulsen Raum zu geben. Nur auf das eigene Leben bezogen, können die Narren (trainload of fools) für Persönlichkeitsanteile stehen, die automatisch, als Gefangene, auf irdische Reize reagieren wie Eisenspäne auf einen Magneten.
Während der Drache aus der vorigen Strophe dem Verstand noch Anlass zu Zweifeln geben mochte („Das ist doch nur ein Märchen! Es ist unsinnig, sein Leben darauf auszurichten!“), wird die Schwerpunktverlagerung nun deutlicher. Ein Zigeuner, ein Außenseiter ähnlich wie Narr und Dieb in All Along the Watchtower, bestärkt den Sucher: Nicht die Seelenimpulse sind der Traum, nein, das äußere Leben ist das Scheinleben, Dein Weg führt Dich zur Wahrheit. Ein schönes Bild dafür, dass Seelenimpulse aus unerwarteten oder bisher ungekannten Ecken des eigenen Wesens aufsteigen. Das Blinklicht (flashing ring) mag andeuten, dass er immer wieder erneuernde Impulse empfängt, doch es gibt noch keine dauerhafte, ununterbrochene Verbindung mit dem Seelenfeld.
Die definitive Übergabe an das Neue Leben
Nach dieser Klärung und Bestärkung beginnt eine Phase der Verwirklichung.
Señor, señor
You know their hearts is as hard as leather
Well, give me a minute, let me get it together
Just gotta pick myself up off the floor
I’m ready when you are, señor
Es geht um eine immer feinere Wahrnehmung der Seelenimpulse. Mit jedem Schritt werden neue Kräfte frei und stehen neue Aufgaben an. Die Herzen der Mitmenschen, die nicht in diesem Prozess stehen, nimmt er als „hart wie Leder“ wahr. Das gilt auch für sein eigenes Herz, soweit es noch von alten Abhängigkeiten erfüllt wird.
Nachdem die Demut verinnerlicht wurde, kann er sich erheben, ganz im Sinne des ebenso magischen wie radikalen „Dein Wille geschehe“.
Señor, señor
Let’s overturn these tables
Disconnect these cables
This place don’t make sense to me no more
Can you tell me what we’re waiting for, señor?
Nun geht es sehr konkret darum, den alten Zustand unumkehrbar hinter sich zu lassen. Das Umwerfen der Tische erinnert an Jesus, der die Händler aus dem Tempel vertrieb. Verbindet man dieses Bild mit Worten aus dem ersten Korintherbrief: „Oder wisset ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des heiligen Geistes ist“, dann geht es um eine innere Reinigung aller Wesensaspekte: Gedanken, Gefühle, Willen, Lebensziele, Gewohnheiten, Bindungen, …
Die Kabel werden gezogen, alte Verbindungen gekappt. Der Mensch als Persönlichkeit mit einem grobstofflichen und mehreren feinstofflichen Körpern ist sterblich. Der unsterbliche Teil, den man Mikrokosmos nennen mag, umhüllt diese Körper wie ein magnetisches Feld. Das Karma ist in dieser magnetischen Hülle gespeichert, prägt Ängste und Begierden und lenkt den Menschen wie eine Marionette. Nun werden diese Verbindungen nach und nach neutralisiert. Es ist kein Kampf, kein Verdrängen oder Unterdrücken, sondern ein Aufgehen in eine andere Schwingung, in der die alten Prägungen ihre Macht über den Menschen verlieren.
Mit den neuen Einsichten erscheint das Leben in alten Mustern sinnlos. Mehr und mehr geht er im absoluten Jetzt auf.
Zum Album (Hinweis: bezahlter Link):
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3 Antworten
[…] (siehe den Beitrag zu Love in Vain vom gleichen Album) und erschien auch als Single (mit Señor (Tales of Yankee Power) auf der […]
[…] Anfang erinnert mich ein wenig an Bob Dylans Señor (Tales of Yankee Power) mit den ähnlich packenden Worten Señor, Señor, Can you tell me where we’re heading / […]
[…] Bankräuber erinnern mich an das Bild vom Menschen als Mikrokosmos (siehe Beiträge über Bob Dylans Señor und Leonard Cohens Avalanche) – eine kleine Welt. Eine magnetische Kugel umgibt den Menschen […]