Die beobachtende Seele: Bob Dylan, I’m Not There

Wenn du etwas loslässt, bist du etwas glücklicher.
Wenn du viel loslässt, bist du viel glücklicher.
Aber wenn du ganz loslässt, bist du frei.

Ajahn Chah

I’m Not There nimmt in Dylans Werk eine Sonderstellung ein. Der Song wurde 1967 mit The Band aufgenommen; Dylan hat ihn nie live gespielt. 1975, acht Jahre später, wurden die Basement Tapes veröffentlicht, allerdings ohne I’m Not There. Die Aufnahme wurde der Öffentlichkeit erst mit dem bemerkenswerten Film gleichen Titels 2007 zugänglich gemacht. Darin stellen sechs Schauspieler verschiedene Facetten von Bob Dylan dar, mit teils historischen, teils fiktiven Personen, darunter ein schwarzer Junge und eine Frau: Christian Bale (Jack Rollings / Pastor John), Cate Blanchett (Jude Quinn), Marcus Carl Franklin (Woody Guthrie), Richard Gere (Billy the Kid), Heath Ledger (Robbie Clark), Ben Whishaw (Arthur Rimbaud).

I’m Not There ist kein fertiges Lied, es gibt keinen offiziellen Text. Auf Bob Dylans Homepage, die alle Texte seiner Songs enthält, fehlt er. Es gibt einige Transkriptionen, die jedoch nicht ganz schlüssig sind.

Peter Post hat nicht nur das hörenswerte Coveralbum Wachablösung veröffentlicht, sondern auch einen lesenswerten Aufsatz „Bob Dylan und ich“ geschrieben, auch betitelt mit „I’m not there / Ich bin nicht da“. Darin beschreibt er fesselnd und kenntnisreich, wie Dylan um Präsenz ringt, um seine wirkliche Identität.

Zur wahren Identität durchzudringen bedeutet, allen Schein, jede Pseudo-Identität abzuweisen. Und was ist das Ego anderes als Schein? Rainald Grebe nutzte in Das psychologische Jahrhundert das einprägsame Bild von der Zwiebel: wir schälen und schälen sie – doch es gibt keinen Kern.

Wenn alles Unwirkliche wegfällt, wenn jegliche Identifikation mit dem engen, von anderen abgegrenzten persönlichen Dasein aufgelöst wird – was bleibt dann noch?

Viele spirituelle Menschen bezeugen Erfahrungen der Verbundenheit: All-Eins-Sein, Aufgehen in einer großen Seelen-Gemeinschaft. Auf dieser Ebene gibt es keine Trennung.

Was bleibt, ist reines Gewahrsein, Bewusstsein.

Dylan hat diesen Zustand in einem Interview prägnant beschrieben. So können inspirierte Werke entstehen:

Du musst diese Gedanken ausfiltern, denn sie bedeuten nichts, sie treiben dich nur vor sich her. Es ist wichtig, alle diese Gedanken loszuwerden. Dann kannst du etwas tun aus der reinen Beobachtung der Situation. Du hast einen Ort, an dem du wahrnehmen kannst, ohne dass es dich beeinflusst. Wo du etwas bringen kannst, ohne nur ans Nehmen zu denken.

Bob Dylan 1991, Song Talk Interview mit Paul Zollo

Film: Masked and Anonymous, 2003

Dylan hat nicht nur Songs geschrieben, sondern auch in einigen Filmen mitgespielt. Für Masked and Anonymous schrieb er sogar gemeinsam mit Regisseur Larry Charles das Drehbuch, spielte die Hauptrolle und verlieh dem Erzähler seine Stimme.

Spoilerwarnung: Wer den Film erst sehen möchte, sollte jetzt nicht weiterlesen – allerdings halte ich die Handlung für nicht so spektakulär. Was mich an dem Film fasziniert, ist, dass er für mich eine Haltung darstellt, aus der Seele zu leben. Das vorurteilsfreie Beobachten ist ein wesentliches Element dieser Lebenshaltung.

Die ursprüngliche, unsterbliche Seele ist in dieser Welt der Gegensätze und Konflikte nicht zu Hause, sie ist hier gefangen. Zu Beginn des Films steckt die Hauptfigur mit dem bezeichnenden Namen Jack Fate (Schicksal) im Gefängnis. Ein windiger Veranstalter holt ihn per Kaution dort heraus, um ein Benefizkonzert zu veranstalten – wobei es ihm vor allem um Begleichung seiner persönlichen Schulden geht. Im Land herrscht Bürgerkrieg. Der letzte Mensch, der sich noch erinnert, warum eigentlich gekämpft wird, ist schon lange gestorben. Auch der Präsident liegt im Sterben. Starke Bilder für chaotische Zustände, die man sowohl im Großen wiederfinden kann, im Zustand der Welt oder zumindest im eigenen Land, wie auch im Kleinen, in sich selbst. Wer kann schon von sich sagen, das eigene Leben werde nur von Weisheit und Liebe bestimmt?

Der Film wurde überwiegend sehr schlecht bewertet, obwohl er mit erstaunlicher Starbesetzung aufwartete: unter anderen spielten Jeff Bridges, Penélope Cruz, Jessica Lange, Angela Bassett, John Goodman, Ed Harris, Val Kilmer, Mickey Rourke und Christian Slater mit. Der Soundtrack enthält fast ausschließlich Dylan-Covers, unter anderem von Grateful Dead, Jerry Garcia und Sophie Zelmani.

Die Hauptfigur ist nur Künstler, sie will nichts bewerten oder lösen, sie will sich nur künstlerisch ausdrücken. Die Seele möchte sich offenbaren, ohne sich in der Vielfalt der Meinungen („Mein-ung“ verweist auf das Ego-Prinzip) auf eine Seite zu stellen.

Am Ende wird der Hauptfigur ein Mord untergeschoben, der Film endet mit der erneuten Fahrt in Polizeigewahrsam. Sie verteidigt sich nicht, sie nimmt das Geschehen wortlos hin.

Bob Dylan: Dark Eyes – Dunkle Augen

In Dark Eyes vom 1985er Album Empire Burlesque finden sich einige Zeilen, die mich so berühren wie nur Weniges, und die genau zu der Haltung der urteilsfreien Wahrnehmung passen. Andere sagen dem Sprecher sinngemäß: sei clever, wenn Du etwas erreichen willst, verrate nicht zu viel und verfolge Deine Ziele. Sie meinen: Rache ist süß. Er empfindet ganz anders, doch er urteilt nicht. Er kennt die Menschen, er kann sich in diesen Zustand einfühlen – und steht doch außerhalb; Rachegedanken liegen ihm fern.

Patti Smith hatte schwere Zeiten hinter sich – ich finde diesen Auftritt 1995 besonders berührend.

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Mehr (Hinweis: bezahlte Links):

Soundtrack: I’m Not There

Film: I’m Not There

Film: Masked and Anonymous

Album: Empire Burlesque, mit Dark Eyes, Clean Cut Kid und anderen Dylan-Songs

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