„Die Himmelssprache im Offenen“ – Anker Larsen, Der Stein der Weisen
In Anker Larsens Roman Der Stein der Weisen sind es hauptsächlich drei Personen, die von Kindheit an nach dem Höchsten suchen. Spannend wie ein Kriminalroman geschrieben, verfolgt der Leser ihre Lebenswege (sowie die etlicher weiterer Personen) voller Irrungen und Wirrungen und überraschender Wendungen. Hier kann man sich nicht, wie sonst häufig in Märchen und spirituellen Entwicklungsromanen, darauf verlassen, dass am Ende alles gut wird. Einige Haupt- und Nebenfiguren scheitern und es werden durchaus tiefe Abgründe des Menschseins ausgelotet.
Berührend schildert der Däne Anker Larsen (1874 – 1957), wie der junge Jens Dahl ins „Offene“ schaut, wie er die „Himmelssprache“ erlebt. Erwachsene vergessen oft, wie offen sie als Kinder für Impulse waren, die über das sinnlich Wahrnehmbare hinausreichen. Es folgt ein Auszug aus dem Kapitel „Beim Holunder“ (in meiner Fassung von 2003, mym-Verlag, ab Seite 68). Die Hauptfigur Jens Dahl hat kürzlich ihren jüngeren Bruder verloren.
Beim Holunder
Eines Sonntags fühlte er [Jens Dahl], dass er die qualvollen Schmerzen im Kopf nicht länger ertragen konnte. Jeder Blick tat weh. Er ging zum Holunder an der Kirchhofsmauer und setzte sich in den dunklen Schatten der Blätter, um sich zu entspannen. Er lehnte den Nacken gegen einen Ast. Ja, das tat gut! Der Holunder stand ganz still in der regungslosen Luft. Jens war fast, als gebe er sich Mühe, kein Geräusch mit den Zweigen der Blätter zu machen. Er war nun in Gesellschaft, war nicht mehr länger allein. Er schmiegte sich dichter an den Stamm, er kam ihm so nahe wie er nur konnte, und als er leiblich nicht näher herankommen konnte, begann er sich ihm innerlich zu nähern. Eine Zärtlichkeit und Hingabe, wie er sie so stark und ungeteilt für einen Menschen nicht aufbringen konnte, ging von seinem Herzen zu diesem friedlichen Holunder hinüber, der, ohne viel Wesens davon zu machen, ihm den Kopf öffnete und die Kopfschmerzen herausnahm; und stattdessen kam etwas, was, wie er glaubte, er und der Holunder gemeinsam dachten.
Es war so still um ihn und in ihm, dass er den Holunder nicht nur spürte, sondern geradezu sein Innerstes hörte. Nein, nicht nur hörte, es war ja dieses Wohlbekannte, das sowohl sehen als auch hören und fühlen auf einmal war – die Himmelssprache war es. Die breitete sich durch sein ganzes Wesen aus und es fehlte ihm an nichts mehr. Das Wort Alles erfüllte anschwellend sein ganzes Herz, und irgendetwas, wohl der Holunder, antwortete: „Ja, alles ist hier.“ Er wusste, dass er unter dem Holunder saß, aber eigentlich konnte es auch überall sein; nichts war mehr lang oder kurz, nah oder fern. „Alles ist hier – Brüderchen auch?“ Er hatte das kaum gedacht, und schon verspürte er den weichen, warmen Druck kleiner Finger, und er fragte, aber nur in Gedanken: „Bist du wirklich hier?“, und in seinem Innern hörte der Brüderchens feine Stimme sagen: „Ja.“ Er fragte: „Wie kannst du in mir sprechen?“ Brüderchen antwortete: „Du stehst ja offen, ich kann direkt in dich hineingehen.“
„Ach, die Himmelssprache macht, dass ich offen stehe“, sagte Jens, „aber du, bist du immer in der Nähe oder manchmal weit weg?“
„Weder nah noch fern“, sagte Brüderchen. „Wie die Himmelssprache“, sagte Jens, und Brüderchen antwortete: „Ja, die Himmelssprache ist nirgends und überall.“
„Niemand kann sie hören, und niemand kann sie übertönen.“ Das sagte wohl der Holunder.
„Jedes Mal, wenn du sie sprichst, weiß ich es“, sagte Brüderchen.
„Und kommst du dann?“ fragte Jens.
„Dann bin ich ja hier“, sagte Brüderchen.
„Ich verstehe“, sagte Jens, „du bist immer drin. Und jetzt bin ich bei dir.“
Und er blieb still bei ihm sitzen.
Der Kontrast zwischen äußeren Worten und intuitivem Verstehen
Anschließend verdeutlicht Larsen den Kontrast zwischen dem intuitiven Verstehen und der an den Verstand und äußere Worte gebundenen Sprache:
Später streckte der Holunder seine Äste und es kam ihm so vor, als sagte er: „Jetzt musst du hier raus!“
Als er über den Spielplatz ging, lachte er über sich selbst, weil er sich einen Spaß daraus machte, sich unbeholfen zu bewegen und verschiedene Schritte auszuprobieren. Es war ja lächerlich, dass er so Schritt für Schritt ging und nur so langsam vorwärts kam.
„Es ist genauso, wie wenn wir sprechen“, dachte er. „Wir sagen ein Wort nach dem andern, und es dauert einige Zeit, und doch sind es nur Bruchstücke, die wir erfahren oder sagen können. In der Himmelssprache sagen wir alles auf einmal, ohne ein einziges Wort zu sagen, und im Offenen ist Alles gerade da, wo wir sind. Im Geschlossenen draußen ist etwas nah und anderes weit weg, und da müssen wir gehen – oder fahren. –
Die aber, die die Märchen geschrieben haben, die sind bestimmt im Offenen gewesen. […]
Zum Stein der Weisen siehe auch diesen früheren Beitrag.
Siehe auch die Beiträge über weitere Werke von Anker Larsen: Martha und Maria, Der Kandidat sowie Olsons Torheit.
Literatur (Hinweis: bezahlte Links):
Anker Larsen: Der Stein der Weisen
Hier geht´s zur Übersicht über spirituelle Romane.
Eine Antwort
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