„Er muss wachsen“: Spirituelle Klarheit bei Gustav Meyrink

Der Autor Gustav Meyrink beschäftigte sich viele Jahre lang mit allerhand esoterischen und okkulten Einweihungsmethoden. In der lesenswerten Biografie von Frans Smit findet sich folgender bemerkenswerte Tagebucheintrag (in meiner Ausgabe von 1988 auf S. 272):

Heute, am 7. August 1930, morgens um 10 Uhr, nach langer, qualvollster Nacht, fiel es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen und ich weiß nun, was der Zweck allen Daseins in Wahrheit ist.

Frans Smit: Gustav Meyrink - Auf der Suche nach dem Übersinnlichen
Frans Smit: Gustav Meyrink – Auf der Suche nach dem Übersinnlichen

Nicht sollen wir durch Yoga uns selbst verändern, sondern wir sollen quasi einen Gott bauen, oder christlich gesprochen: <Wir sollen nicht Christo nachfolgen, sondern ihn vom Kreuz abnehmen!>

Den alten Mann, den ich immer in der Ferne sehe, soll ich also krönen und ihn mit Purpur bekleiden und ihn zum Herrscher meines Lebens machen. Ich sehe ihn jetzt auch gekrönt und im Purpurmantel! Je vollkommener er wird, desto eher wird er mir helfen. ER ist also dann der Adept und ich werde nur insofern daran teilnehmen, als er sich einmal mit mir verschmelzen wird, denn im Grunde ist er ja mein eigenstes Ich. <Er wird wachsen, ich aber werde schwinden.> (Dies ist der Sinn der Rede des Täufers!)

Bisher war falsch und die Ursache alles meines Leidens, dass ich all das nicht klar wusste und glaubte: <Ich> müsste mich vervollkommnen, mich und nicht ihn! Die Tantrik-Übungen sind also wie alle Askese falsch, führen in den Abgrund und sind eigentlichste schwarze Magie!

Jetzt weiß ich auch, weshalb der alte Mann immer so unbeweglich war wie ein Bild! Eben, weil ich an mir arbeitete und nicht an ihm. Bo Yin Ya stellte es mir so dar, als müsse man sofort alles, was man in solcher Art findet, gewissermaßen verschlingen und sich von ihm nähren! Gerade umgekehrt! Der Alte ist also der Christos und wir müssen ihn losbinden und ihn mächtig machen, dann erst kann er Wunder tun! Das Wundertun geht erst dann auf uns über, bis diese Schizophrenie aufgehoben sein wird und wir mit aufgesogen sein werden. […]

Ich kann keineswegs alles das, was ich ein Leben lang hindurch in Yoga versuchte und tat, als Irrtum bezeichnen. Ich glaube aber, solche Mühen sind nötig, um das zu erkennen, was mir heute, am 7. August, klar geworden ist.“

Frans Smit: Gustav Meyrink – Auf der Suche nach dem Übersinnlichen, KAP. 5 „SCHÜLER DER WAHREN ALCHIMIE“

Zum Bibelzitat „Er muss wachsen, ich aber muss weniger werden“ hat Hermann Hesse in der Morgenlandfahrt ein eindrucksvolles Bild gefunden.

Zum Yoga vergleiche den Beitrag: Geistiges Feuer: Spirituelle Läuterung

Literatur (Hinweis: bezahlte Links):

Frans Smit: Gustav Meyrink – Auf der Suche nach dem Übersinnlichen

Gustav Meyrink: Der weiße Dominikaner

Gustav Meyrink: Auf der Suche nach dem Übersinnlichen

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2 thoughts on “„Er muss wachsen“: Spirituelle Klarheit bei Gustav Meyrink

  1. Die Reise des Autors durch die mystischen Welten der spirituellen Ausbildung sind zutiefst beeindruckend und inspirierend. Ein wenig getrieben von einer unstillbaren Neugier und einem tiefen Verlangen nach Erkenntnis.

Freue mich über Kommentare!