Spiritualität in der Alltagssprache: „Jenseits von Gut und Böse“

Die Alltagssprache enthält Ausdrücke und Begriffe, die von tieferer Wahrheit zeugen, die uns aber oft nicht bewusst wird. Ein Beispiel dafür ist „Jenseits von Gut und Böse„.

Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse

Zum geflügelten Wort dürfte der Ausdruck vor allem durch das Buch Friedrich Nietzsches geworden sein. Der berühmte Philosoph verwies damit nicht auf ein unmoralisches Leben, sondern im Gegenteil auf ein Leben, das sich an einer höheren Moral ausrichtet als der simplen Unterscheidung von Gut und Böse.

Jenseits von Gute und Böse im heutigen Sprachgebrauch

„Wenn ich mir vorstelle, dass ich für das Endspiel in Berlin mindestens 1.000 Euro auf den Tisch legen muss, wenn ich einen guten Sitzplatz auf der Geraden haben möchte, also das sind schon Preise jenseits von Gut und Böse. Für einen normalen Fan ist das eigentlich gar nicht mehr bezahlbar.“

Quelle: rbb24.de

Hier ist die ursprüngliche Tiefe verloren gegangen. Die Formulierung bezieht sich auf etwas, das auf einer Skala zwischen zwei Extremen eingeordnet wird. Sie drückt aus, dass hier ein ausgewogenes Maß verloren ging und der Sachverhalt (hier: ein Kaufpreis) sich zu weit einem Extrempunkt nähert.

In der ursprünglichen Bedeutung geht es jedoch um eine Ebene, die völlig außerhalb der weltlichen Gegensätze liegt.

Das Gute, das Böse und die dritte Ebene: Gustav Meyrink

In der Meyrink-Biografie von Frans Smit (deutsch von Konrad Dietzfelbinger) fand ich ein schönes Beispiel für die Tiefe dieses Ausdrucks.

Hier ein Abschnitt aus dem Kapitel „Unter Hochstaplern und Eingeweihten“:

Frans Smit: Gustav Meyrink - Auf der Suche nach dem Übersinnlichen
Frans Smit: Gustav Meyrink – Auf der Suche nach dem Übersinnlichen

Die Kraft der Überzeugung, mit der Meyrink in all seinen Büchern auftritt, ist der vollständige Beweis, dass er ganz aus eigener Erfahrung über den Prozess der geistigen Osmose sprechen konnte. Berücksichtigt man den geradezu paulinischen Eifer, mit dem er viele Methoden prüfte, so wundert es einen nicht, dass er mit okkulten und esoterischen Lehrern und Orden der unterschiedlichsten Couleur in Berührung kam. Im vorigen Kapitel ist in Kürze angedeutet worden, welche drei große Strömungen es auf diesem Gebiet gibt. Zwei, die in der uns bekannten Naturordnung wirksam sind, die eine dem Bösen, die andere dem Guten nachstrebend, und eine dritte, die von einer unbekannten Naturordnung aus arbeitet, die senkrecht auf der unseren steht und von der alle großen Weltlehrer gezeugt haben: das Nirwana des Buddha, das „Königreich nicht von dieser Welt“ des Christus.

Zweifellos stand Meyrink mit allen drei großen Strömungen in Verbindung. Das war die Folge der Tatsache, dass ein Sucher durch sein Verlangen nach geistiger Nahrung bis an die Grenze dieser Naturordnung kommt, die die Domäne der zwei einander widerstreitenden ersten Gruppen ist. Über diese Grenze reicht dann die dritte, unbekannte Bruderschaft ihm die Hand und gibt ihm unpersönliche Hilfe. Für denjenigen, der die Grenze erreicht, wird die Magie des Wortes wirksam: „Dem, der klopft, wird aufgetan.“

Frans Smit: Gustav Meyrink – Auf der Suche nach dem Übersinnlichen;
Aus dem Kapitel „Unter Hochstaplern und Eingeweihten“

Das Kreuz als Symbol für die dritte Ebene „Jenseits von Gut und Böse“

Das Kreuz ist für mich ein starkes Symbol für die Strömung, die von der uns unbekannten Naturordnung aus arbeitet, buchstäblich jenseits von Gut und Böse. Während der horizontale Balken die Gegensätze dieser Welt andeutet, den Kampf zwischen Böse und Gut, durchkreuzt der vertikale Balken diese Ebene: er steht senkrecht auf ihr.

Beziehen wir das Kreuz auf den Menschen, so sehen wir in den ausgebreiteten Armen die Wirksamkeit in der Welt, in der aufrechten Position die (zumindest mögliche) Ausrichtung auf eine andere Ebene. Der Schnittpunkt der beiden Balken befindet sich im Herzen. Hier treffen sich alle Einflüsse, hier entsteht die Lebenshaltung.

Hat das Böse einen (positiven) Sinn?

Ist es nicht sehr menschlich, sich auf die Seite des Guten zu stellen und das Böse zu bekämpfen oder durch Gutes zu ersetzen?

Yin-Yang-Symbol
Yin-Yang-Symbol
Quelle: Wikimedia Commons
Dank an Gregory Maxwell

Das Yin-Yang-Symbol kann uns zeigen, dass das Gute der kleinste Teil des Bösen ist und umgekehrt. In unserer Welt sind Gut und Böse keine statischen Qualitäten, sondern sie gehen dynamisch immer wieder in einander über. Wir können das Gute hier nicht dauerhaft befestigen.

Ist es nicht vermessen, zu meinen, man könne über dem Guten stehen, „jenseits von Gut und Böse“?

Warum sollten wir das Böse bekämpfen, wenn es ein offenbar nicht zu beseitigender Aspekt dieser Welt ist?

Mir hilft folgendes Bild:

Nachdem der Mensch sich durch Eigenwillen aus der göttlichen Harmonie löste, erhielt er diese Welt der Gegensätze, die Welt von Gut und Böse, als Entwicklungsmöglichkeit. Er sollte hier Erfahrungen sammeln und dann in die göttliche Sphäre zurückkehren. Jedoch folgten zu wenige Menschen diesem Auftrag, viele richteten sich hier bequem ein. Da wurden die luziferischen Kräfte (Luzifer = der Lichtbringer) aufgefordert, den Menschen daran zu erinnern: Hier ist nicht deine wahre Heimat. Dein geistiger Anteil gehört einem anderen Reich an. Erinnere Dich daran, und hilf ihm, dorthin zurückzukehren!

Weitere Beiträge zur Spiritualität in der Sprache

Beiträge zu Gustav Meyrink

Literatur (Hinweis: bezahlte Links):

Frans Smit: Gustav Meyrink – Auf der Suche nach dem Übersinnlichen

Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse

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1 thoughts on “Spiritualität in der Alltagssprache: „Jenseits von Gut und Böse“

  1. „The Good, the Bad and the Ugly“ . . . sogar in S. Leones Spaghetti- Western (Dollar- Trilogie, Once upon a time in the West) ist diese märchenhafte Sicht aus der höheren Warte auf das ewige Wechselspiel von Gut und Böse enthalten.

Freue mich über Kommentare!