Sich von der Welt lösen: Bob Dylan, Abandoned Love

Erst kürzlich stieß ich auf Bob Dylans Abandoned Love. 1975 aufgenommen, wurde der Song weder auf Desire noch einem der folgenden Alben veröffentlicht. Erst 1985 erschien er auf der Kompilation Biograph, die auch viele früher veröffentlichte Klassiker enthält.

Der Song beschreibt eine gescheiterte Beziehung und den klassischen Konflikt zwischen Kopf und Herz: My head tells me it’s time to make a change … my heart is telling me I love you still …

Viele sind von dem Song berührt, man kann gut mit dem Trennungsschmerz mitfühlen. Oft wurde das Lied mit Dylans Biografie in Verbindung gebracht – schließlich ging seine Ehe mit Sara Lownds zu dieser Zeit in die Brüche – auch wenn sie erst 1977 geschieden wurde. Sara war übrigens bei der Session anwesend, bei der dieser Song aufgenommen wurde. In der gleichen Sitzung spielte Dylan auch die Album-Versionen von Sara ein – seinem vielleicht am stärksten persönlich gefärbten Song – sowie von Isis, das er als „Lied über’s Heiraten“ vorstellte und das für mich ein Einweihungslied ist.

Mich hat Abandoned Love gleich beim ersten Hören gepackt. Ich glaube, die Faszination hat damit zu tun, dass der Song auch auf einer spirituellen Ebene funktioniert. Ich sehe ihn als Etappe auf dem Einweihungsweg: das Lösen von irdischen Bindungen. Nach meinem Eindruck schwingt diese Ebene durch. Die Violine von Scarlet Rivera trägt ihren Teil bei, wenn auch nicht so vordergründig wie auf Hurricane und One More Cup of Coffee.

Bob Dylan, Abandoned Love, mit Scarlet Rivera (Violine), Rob Stoner (Bassgitarre, Hintergrundgesang), Howard Wyeth (Schlagzeug, Klavier)

Irregeführt vom „Inneren Clown“

I can hear the turning of the key
I’ve been deceived by the clown inside of me
I thought that he was righteous but he’s vain
Oh, something’s a-telling me I wear the ball and chain

"I wear the ball and chain"
Pixabay: Peggy_Marco
„I wear the ball and chain“
Pixabay: Peggy_Marco

Es beginnt mit Selbsterkenntnis: der „Clown“ kann das Ego sein, das immer neue Wünsche und Ziele vorgibt, ohne jemals zufrieden zu sein, und die Aufmerksamkeit vom Wesentlichen ablenkt. Er hat sich vom eitlen inneren Clown täuschen lassen und spürt seine Gefangenschaft.

My patron saint is a-fighting with a ghost
He’s always off somewhere when I need him most
The Spanish moon is rising on the hill
But my heart is a-tellin’ me I love ya still

Sein Schutzpatron kämpft mit einem Geist – gerade jetzt, wo er ihn braucht. Der Mond wird manchmal mit der Seele assoziiert. (Der Mond reflektiert das Sonnenlicht, so wie die Seele das Licht des Geistes auffangen und indirekt weitergeben kann.) Er steigt auf – die unsterbliche Seele beginnt sich zu regen? Der Berg als Bild für innere Erhebung? Doch das Herz hängt noch an alten Bindungen. Einer Partnerin, oder etwas abstrakter an irdischen Wünschen?

Die unsterbliche Seele beginnt sich zu regen

I come back to the town from the flaming moon
I see you in the streets, I begin to swoon
I love to see you dress before the mirror
Won’t you let me in your room one time ’fore I finally disappear?

Jetzt steht der Mond in Flammen – die seelischen Impulse nehmen an Intensität zu. Doch er kann nicht in innerer Erhebung verweilen, er wird auf die harte Realität seines irdischen Lebens zurückgeworfen. Sobald er „sie“ auf der Straße erblickt, wird er ohnmächtig. Weltliche Verlockungen schlagen ihn in ihren Bann. Einmal noch möchte er auskosten, was die Welt zu bieten hat. Dabei ist ihm klar, dass ein endgültiger Abschied ansteht.

Everybody’s wearing a disguise
To hide what they’ve got left behind their eyes
But me, I can’t cover what I am
Wherever the children go I’ll follow them

Diese Strophe weist für mich deutlich über eine gescheiterte zwischenmenschliche Beziehung hinaus. Warum sollte er sich im Trennungsschmerz darüber Gedanken machen, wie andere ihr Innerstes verbergen? Für ihn steht nun Aufrichtigkeit an, vor allem ehrliche Selbsterkenntnis. Das klingt auch in Isis an, oder in dem bekannten All Along the Watchtower, wo es heißt:

„But you and I, we’ve been through that, and this is not our fate
So let us not talk falsely now, the hour is getting late”

Der Bezug auf die Kinder erinnert an die Aufforderung Jesu: „Werdet wie die Kinder“.

I march in the parade of liberty
But as long as I love you I’m not free
How long must I suffer such abuse
Won’t you let me see you smile one time before I turn you loose?

Es zieht ihn zur Freiheit, doch noch ist er gefangen. Woher kommt das Empfinden des Missbrauchs – ein starkes Wort für eine unglückliche Beziehung, in der es noch immer Liebe gibt? Vielleicht ist es nicht die Persönlichkeit, nicht der irdische Anteil, sondern das Seelenwesen, das das Leben in der Welt der Gegensätze als Missbrauch empfindet.

Der Wendepunkt: Abschied und Loslassen

I’ve given up the game, I’ve got to leave
The pot of gold is only make-believe
The treasure can’t be found by men who search
Whose gods are dead and whose queens are in the church

Nun gilt es, innerlich wirklich loszulassen, Raum in sich zu schaffen für die Seelenimpulse. Er hat das „Spiel“ aufgegeben. Die irdischen Schätze werden als bloßer Schein durchschaut. Der wahre Schatz kann nicht mit irdischen Mitteln gefunden werden. Die Götter der Gewohnheit sind tot, und tja, auch in der Kirche findet er keine Erlösung. Das Gold erinnert an die Alchemie.

We sat in an empty theater and we kissed
I asked ya please to cross me off-a your list
My head tells me it’s time to make a change
But my heart is telling me I love ya but you’re strange

Nach einem Kuss in einem leeren Theater bittet er sie, ihn von ihrer Liste zu streichen. Er weiß, dass eine Veränderung unausweichlich ist, doch sein Herz kann nicht so einfach loslassen. Unter dem Einfluss der Seele erscheinen ihm die alten Freuden zunehmend befremdlich.

Das Irdische muss den Thron preisgeben

One more time at midnight, near the wall
Take off your heavy makeup and your shawl
Won’t you descend from the throne, from where you sit?
Let me feel your love one more time before I abandon it

Die Leere alles Irdischen ist weit genug durchschaut und wird nun vollends demaskiert. Ohne Schminke und Schal wirkt „Frau Welt“ bei weitem nicht mehr so attraktiv. Die Zeilen erinnern mich an das Ende von Gustav Meyrinks Der Engel vom westlichen Fenster, in dem der Held mit „Frau Welt“ ringt, die vordergründig alle lang ersehnten Freuden verheißt, doch bei näherer Betrachtung Fäulnis und Verwesung ausstrahlt. Das Ego, der innere Clown muss den Thron freigeben, fortan soll die Seele das Leben leiten. Der Thron mag sich hinter der Stirn befinden. Doch noch immer gibt es eine Stimme, die ein letztes Mal in irdische Freuden eintauchen will.

Interessanterweise hat Dylan den Song bei keinem seiner bereits über 3800 Konzerte gespielt. Es gibt jedoch eine Live-Aufnahme vom Juli 1975, die bei einem Auftritt von Ramblin‘ Jack Elliott entstand. Joe Kivak beschreibt in Encounters with Bob Dylan eindrücklich, wie Dylan dort diesen Song spielte, den niemand kannte, und wie alle an seinen Lippen hingen. Das sei der stärkste Auftritt gewesen, den er je erlebt habe („the strongest performance I’ve ever heard„).

Bob Dylan: Die einzige Live-Aufnahme von Abandon Love, Greenwich Village, 3.7.1975

Coverversionen gibt es unter anderem von George Harrison, den Everly Brothers, Willie Nile sowie Gillian Welch und David Rawlings.

Gillian Welch, David Rawlings: Abandoned Love

Weitere Liebeslieder von Bob Dylan mit spiritueller Ebene:

Bob Dylan: Biograph

Bob Dylan: Die Philosophie des modernen Songs

Chronicles: Die Autobiografie

Zur Übersicht über Spiritualität in Rock- und Popsongs

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Eine Antwort

  1. 14. September 2024

    […] Die Bankräuber erinnern mich an das Bild vom Menschen als Mikrokosmos (siehe Beiträge über Bob Dylans Señor und Leonard Cohens Avalanche) – eine kleine Welt. Eine magnetische Kugel umgibt den Menschen wie ein Firmament, in dem das Karma gespeichert ist. Der Mikrokosmos ist zwar unsterblich, jedoch in unserem heutigen Zustand degeneriert, das heißt höhere Energien kommen nicht so ohne weiteres herein. Die „Bankräuber“ bohren ein Loch in die Wand. Das lässt mich an Leonard Cohens Worte denken: In allem ist ein Riss / So kommt das Licht herein. Viele Menschen erleben etwas derartiges in tragischen Momenten. In tiefster Not, wenn wir uns gleichsam aufgeschnitten fühlen, sind wir oft empfänglicher für das Licht, als wenn alles nach unserem Plan läuft. Die Bankräuber nehmen alte Schätze mit, die für die jetzt anstehende Transformation keinen Wert haben. In Abandoned Love singt Dylan: Der Topf aus ird’schem Gold ist nur ein leeres Wort … […]

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