Avicii: Wake Me Up
Aviciis Wake Me Up, 2013 zuerst als Single und später auf dem Debutalbum True veröffentlicht, ist eine der erfolgreichsten Singles überhaupt. Geschrieben von Avicii (Tim Bergling), Mike Enzinger und Aloe Blacc, erreichte sie Platz 1 in vielen Ländern, unter anderem mehreren US-Charts (Hot Dance/Electronic Songs, Adult Top 40, Dance Club, Mainstream Top 40, jedoch nicht den Billboard Hot 100), Australien, Brasilien, Frankreich, Israel, Großbritannien (Singles und Dance), Deutschland, und weiteren, insgesamt über 20. Es war der erste Song, der auf Spotify über 200 Million Mal gestreamt wurde – die Marke erreichte er bereits im Februar 2014.
Das Musikvideo: Finde heraus, wo Du hingehörst
Das Musikvideo wurde einige Wochen nach der Single veröffentlicht, im Juli 2013; auf Youtube verzeichnet es bereits über 1,9 Milliarden (!) Aufrufe. Es erzählt eine eigene Geschichte über den Songtext hinaus: Zwei Mädchen, augenscheinlich Schwestern, leiden in ihrem kleinen Dorf darunter, anders zu sein und sich anders zu fühlen als die übrigen Dorfbewohner, die sie oft abweisend ansehen. Beide tragen ein besonderes Tattoo am Arm: ein Symbol mit zwei Dreiecken, die nach außen weisen, mit einer kleinen Lücke dazwischen. Beim Ausgehen verstecken sie es unter ihrer Kleidung.
Eines Tages, als die jüngere Schwester noch schläft, reitet das ältere Mädchen auf einem Pferd in eine größere Stadt. Das Video zeigt eindrucksvolle Aufnahmen ihres Weges: eine lange Gerade durch eine Plantage hindurch, hin zu den Bergen; dann durchquert sie einen Fluss, bis sie schließlich die Stadt erreicht. Sie reitet eine leere Autobahn entlang, in das Modeviertel (Fashion District), an monumentalen Gebäuden vorbei. Sie bindet das Pferd an einen Mast, dann begegnet sie dem ersten Menschen in der Stadt. Im Gegensatz zu ihr selbst zeigt die junge Frau ihre Schulter unverhüllt. Das Mädchen dreht sich um, folgt der Frau und entdeckt dasselbe Tattoo an ihr. Kurz darauf wird sie von einer offenherzigen Gruppe willkommen geheißen, sie fahren zu einer Party, sie tanzen, viele zeigen ihr Tattoo offen.
Sie kehrt zu ihrer Schwester zurück und fordert sie auf, sofort zu packen: „Wohin gehen wir?“ – „Da hin, wo wir hingehören!“
Diesmal gehen sie den langen Weg zu Fuß, bis sie schließlich gemeinsam die Stadt erreichen, wo sie willkommen geheißen werden und wieder tanzen.
Ein spiritueller Blick auf das Video
Man kann leicht mit den Mädchen mitfühlen, wie verloren sie sich in ihrem Dorf fühlen, und wie willkommen in der Stadt bei den Gleichgesinnten.
Aus spiritueller Sicht könnten die beiden Mädchen für Aspekte innerhalb eines Menschen stehen. Die ältere Schwester mag die Seele symbolisieren, die jüngere die Persönlichkeit. Solange die Seele nicht völlig von irdischen Themen absorbiert wird, hat sie Zugang zu einem größeren Erfahrungsschatz als die Persönlichkeit, die in aller Regel nur ihre eigene kurze Lebensspanne überblicken kann.
Der Mensch ist offensichtlich bereits zu Beginn des Videos ein Sucher. Sie hat erkannt, dass sie nichts Wesentliches von dem ihr bekannten Leben erwarten kann. Da muss es doch mehr geben – doch wo kann sie dieses „Mehr“ finden?
Die Seele erfährt das Licht
Die spirituelle Reise beginnt, als die Seele einen klaren Eindruck des inneren Lichtes erfährt, während das Tagesbewusstsein des Menschen schläft. Die Seele kann also zuerst einen höheren Seinszustand erleben. Viele Menschen erhalten solche Inspirationen – die Frage ist jedoch, wie sie darauf reagieren. Hier folgt die jüngere Schwester dem Ruf der Seele ohne Zögern – sie hat tief verinnerlicht, dass sie nichts zu verlieren hat. Nichts hält sie in ihrem alten Leben im Dorf.
Nachts, wenn die körperlichen Sinne keine Ablenkung hervorrufen und das Alltagsbewusstsein sich zurückzieht, kann die Seele Eindrücke aus einem anderen Lebensfeld aufnehmen. Ihre Reinheit entscheidet darüber, mit welchem Lebensgebiet sie sich verbindet. Hier im Video wird sie von ihrem wahren Zuhause gerufen. Sie kann sich viel freier bewegen als der physische Körper – eine Eigenschaft, die eindrucksvoll durch das Pferd symbolisiert wird.
Der Kontrast zwischen den Dorfbewohnern und den Städtern
Die Dorfbewohner grenzen die Sucherin aus: Sie sehnt sich nach einem anderen Leben, sie kann und will sich nicht in das Dorfleben einfügen, sie will sich nicht der Hoffnungslosigkeit überlassen und in der Eintönigkeit des Alltags versinken. Die Dorfbewohner mögen sie nicht – vielleicht, weil sie sich einen Funken Seelenlicht bewahrt hat, zu dem die anderen Dorfbewohner keinen Zugang mehr haben. Sie mögen nicht daran erinnert werden, dass ihnen etwas Wesentliches fehlt. Es fühlt sich so an, als hätten sie Mauern um sich selbst errichtet. Viele Sucher wurden schon als Narren bezeichnet, weil sie sich nach etwas sehnten, das mit den üblichen Sinnen nicht zu fassen ist.
Die Stadtbewohner sind viel offenherziger. Sie haben die Verbindung zu ihrem innereigenen Lichtfunken bewahrt und haben daher kein Bedürfnis, sich von anderen abzugrenzen. Auf der Seelenebene gibt es keine Trennung, nur Einheit. Keine Angst, keinen Neid, keine Notwendigkeit, etwas Besonderes sein zu müssen; es ist nicht erforderlich, Schwächen und Wunden zu verstecken …
Menschliche Persönlichkeit und Seele gehen den Weg gemeinsam
Ein zweiter Kontrast besteht zwischen dem schnellen Ritt der älteren Schwester auf dem Pferderücken und dem wesentlich langsameren und beschwerlicheren Fußmarsch, als die beiden Mädchen gemeinsam das Dorf endgültig verlassen. Es ist eine typische Erfahrung am Beginn eines spirituellen Weges: EinE SucherIn findet eine neue Gruppe, eine neue Lebenssicht, einen neuen Impuls, eine neue Einsicht in den Sinn ihres Lebens. Sie reagiert enthusiastisch und erwartet schnelles Vorankommen: Plötzlich ergibt alles einen Sinn, alles fühlt sich auf ein Mal richtig an – und so wähnt sie sich dem Ziel nahe.
Jedoch ist es erforderlich, alle Aspekte des alten Wesens zu transformieren. Die Seele mit ihrer Leichtigkeit muss sich mit dem Menschen, der Persönlichkeit, verbinden, mit ihren Schwächen, ihrem mangelnden Durchhaltevermögen, ihrer Anfälligkeit für Ablenkungen … Und so mag sich die Reise als länger und mühsamer erweisen, als man im ersten Moment dachte.
(Zur Verbindung zwischen Persönlichkeit und Seele siehe auch die Beiträge über Leonard Cohens Ballad of the Absent Mare und Bob Dylans Changing of the Guards.)
Das Modeviertel: Ein Hinweis auf das Seelenkleid?
Als das ältere Mädchen zum ersten Mal die Stadt erreicht, betritt sie das Modeviertel (im Video bei 2:01). Vielleicht ist das ein Hinweis auf eine subtilere Art von „Mode“: Nicht Klamotten, die man beliebig wechselt, sondern das Seelenkleid? In spirituellen Texten wurden Kleider oft in diesem Sinn verwendet – nicht nur in der Bibel. Siehe den Beitrag über Simon & Garfunkels Scarborough Fair; auch in Harry Styles‘ Sign of the Times und Bob Dylans Love in Vain finden sich ähnliche Bezüge.
Der Text: Ein Sommerhit?
Der Sänger und Co-Autor Aloe Blacc erzählte Today, beim Touren sei ihm bewusst geworden, was für ein tolles Leben er hätte: „Wecke mich, wenn alles vorbei ist“ – und der weitere Text entwickelte sich daraus.
Feeling my way through the darkness
Guided by a beating heart
I can’t tell where the journey will end
But I know where to start
They tell me I’m too young to understand
They say I’m caught up in a dream
Well life will pass me by if I don’t open up my eyes
Well that’s fine by me
Meinen Weg durch die Dunkelheit erspüren / Geführt vom Herzschlag / Keine Ahnung, wo mich der Weg hinführen wird / Wenigstens weiß ich, wo ich anfangen kann / Sie sagen, ich sei zu jung, um zu verstehen, in einem Traum gefangen / Das Leben würde an mir vorbeiziehen, wenn ich meine Augen nicht öffne / Damit kann ich leben …
Aus meiner Sicht kann man den Text auf verschiedenen Ebenen verstehen. Er kann die Freude am Hier und jetzt ausdrücken …
So wake me up when it’s all over
When I’m wiser and I’m older
All this time I was finding myself
And I didn’t know I was lost
… oder von einer tiefen Wahrheitssuche zeugen. Ein wichtiger Schritt besteht darin, sich überhaupt klar zu werden, dass etwas fehlt. Beim Erwachsenwerden kann man am Zustand der Welt verzweifeln, aber das hilft nicht weiter …
I tried carrying the weight of the world
But I only have two hands
I hope I get the chance to travel the world
But I don’t have any plans
I wish that I could stay forever this young
Not afraid to close my eyes
Life’s a game made for everyone
And love is the prize
Liebe könnte sich darauf beziehen, einen Partner zu finden, einen Seelengefährten – oder sich (wieder) mit dem Licht zu verbinden, wie es spirituelle Liebeslieder beschreiben (etwa von Bob Dylan und Cat Stevens).
Vor allem in Verbindung mit dem Video überträgt der Song eine starke Botschaft und ermutigt uns, der Seelenstimme zu folgen.
Zur Übersicht: Spirituelle Impulse in der Rock- und Popmusik
Danke Wolf – sehr coole Interpretation :-))
Leider ist Avicii sehr früh gestorben.
HG Andre
Ja, mit 28 … Hat den „Club 27“ nur knapp verpasst: Jimi Hendrix, Janis Joplin, Jim Morrison, Kurt Cobain, Amy Winehouse, Brian Jones (Gründungsmitglied der Stones) …
…wenn man die Reihe so liest…Wahnsinn wie jung die alle noch waren – und trotzdem schon Weltstars.
Mit „For a better day“ hat er auch ein bemerkenswertes Video gegen Kindesmissbrauch gemacht: