Bob Dylan: Oh Sister

Ein wesentlicher Grund für die Verleihung des Literatur-Nobelpreises an Bob Dylan 2016 dürfte sein, dass viele seiner Songs auf mehreren Ebenen verstanden werden können. Ein gutes Beispiel dafür ist Oh Sister, 1975 aufgenommen und auf der Rolling Thunder Revue live gespielt, im Januar 1976 auf dem Album Desire veröffentlicht. Oh Sister wurde, wie die meisten Songs auf Desire, gemeinsam mit Jacques Levy geschrieben.

Oh Sister: Entfremdete Geschwister?

Auf den ersten Blick spricht ein Bruder seine Schwester an …

Oh, sister, when I come to lie in your arms
You should not treat me like a stranger

Oh, sister, am I not a brother to you
And one deserving of affection

Oh, sister, when I come to knock on your door
Don’t turn away, you’ll create sorrow

… die ihn kalt abweist. Haben sich die Geschwister entfremdet, gab es einen Konflikt in der Vergangenheit? Der Bruder strebt eine Harmonisierung ihres Verhältnisses an, doch die Schwester ist dazu nicht bereit?

Oh Sister: Ein Liebeslied?

Einige Zeilen passen nicht so recht in das Bild der beiden als (biologische) Geschwister. Es gibt eine Referenz zum Vater, wobei das englische Father groß geschrieben wird, während brother und sister der üblichen Kleinschreibung folgen. Auch das His in der zweiten Strophe in follow His direction wird groß geschrieben. Das weist auf den göttlichen Vater hin.

Our Father would not like the way that you act
And you must realize the danger

And is our purpose not the same on this earth
To love and follow His direction?

So gesehen könnte der Song dem Love and Peace-Lebensgefühl entsprechen; jeder kann (theoretisch) jeden lieben, alle Menschen sind verbunden, im Grunde sind wir alle Kinder Gottes. Wir sind auf Erden, um zu lieben – warum also verwehrt sich die (Seelen-)Schwester?

Bob Dylan und Joan Baez

Manche interpretieren Dylans Werke in Richtung biografischer Bezüge. Joan Baez war Anfang der 1960er Jahre bekannter als Dylan und förderte ihn als Gastsänger auf ihrer 1963er-Tour. Die beiden wurden ein Liebespaar; auf seiner 1965er-England-Tour nahm er sie hingegen nicht mit auf die Bühne; sie fühlte sich vernachlässigt und die Beziehung ging in die Brüche. Im April 1975 erschien Diamonds and Rust, ein Song, in dem sie die gescheiterte Beziehung zu Dylan thematisierte. Oh Sister könnte man als Antwort darauf verstehen: Baez als verbitterte Seelen-Schwester.

Zu dieser Interpretation passt, dass Baez 1976 den Song Oh Brother veröffentlichte, der wiederum als Antwort auf Dylans Oh Sister verstanden werden kann und bittere Zeilen enthält wie:

You’ve done dirt to lifelong friends
With little or no excuses
Who endowed you with the crown
To hand out these abuses?

So little brother when you come
To knock on my door
I don’t want to bring you down
But I just went through the floor
My love for you extends through life
And I don’t want to waste it
But honey, what you’ve been dishing out
You’d never want to taste it

Wer gab Dir das Recht, Freunde wie Dreck zu behandeln? … Ich liebe Dich lebenslang, aber ich möchte diese Liebe nicht vergeuden … Was Du anderen angetan hast, würdest Du selbst nicht schmecken wollen …

Oh Sister: Der Geist-Aspekt wendet sich an den Seelen-Aspekt

Biografische Bezüge in Dylans Werk zu suchen, kann trügerisch sein. Immer wieder hat er mit Erwartungen seiner Fans gespielt und sie systematisch enttäuscht. Und selbst wenn persönliche Erlebnisse Themen seiner Songs anstoßen, muss das nicht heißen, dass sie nicht auf eine höhere Ebene abzielen.

Die dritte Strophe sprengt den Rahmen einer zwischenmenschlichen Liebesbeziehung:

We grew up together
From the cradle to the grave
We died and were reborn
And then mysteriously saved

Die beiden wuchsen zusammen auf (das passt noch zu biologischen Geschwistern) – allerdings „von der Wiege bis zum Grab“; weiter starben sie und wurden wiedergeboren und „auf mysteriöse Weise gerettet / erlöst“. Manche sehen in diesen religiösen Bildern eine Vorstufe zu Dylans „Christlicher Trilogie“, zu der die Alben Slow Train Coming (1979), Saved (1980) und Shot of Love (1981) gezählt werden. (Vergleiche den Beitrag zu Saving Grace.)

Für mich ergeben diese Zeilen Sinn, wenn man sie auf die Ebenen der Seele und des Geistes bezieht. Der Geistaspekt ist ohnehin unsterblich, er kann lediglich latent sein; auch die höheren Seelenwerte gehen beim stofflichen Tod nicht verloren – in der nächsten Inkarnation kann die Seele am bereits Erreichten anknüpfen.

In einigen spirituellen Traditionen gilt das Ziel des Menschseins als erreicht, wenn die Seele sich mit dem Geist verbindet – so etwa in der geistig verstandenen Alchemie oder in einer Deutung des Gralsmythos, den man bis ins Alte Ägypten und Hermes Trismegistos zurückführen kann.

Der Geist ist eine allgegenwärtige göttliche Kraft. Doch er kann nur dann im Menschen wirksam werden, wenn das Verbindungsglied zwischen Geist und Körper, die Seele, dafür bereit ist. (Zu möglichen Missverständnissen zwischen den Bedeutungsebenen vergleiche den Beitrag Körper, Seele, Geist – zwei Ebenen.)

Aus diesem Blickwinkel kann man Oh Sister als Ruf aus der geistigen Welt verstehen, der sich an die Seele richtet und sie auffordert, sich ihm hinzugeben. Noch ist sie nicht bereit dafür, noch hängt sie an irdischen Bindungen, noch ist weitere Läuterung erforderlich.

So kann man die Warnungen in der ersten und vierten Strophe spirituell verstehen:

Our Father would not like the way that you act
And you must realize the danger

Die Seele, die sich dem Geist verweigert, verletzt die göttlichen Gesetze. Das erinnert an die biblischen Worte: „Die Seele, die sündigt, soll sterben“ (Hesekiel 18). Nüchtern betrachtet, ist das keine Drohung, sondern eine Beschreibung des sterblichen, von Gott getrennten Menschen – mit der Verheißung, dass dieser Zustand überwunden werden kann. Die Gefahr besteht darin, das Leben zu beenden, ohne das Ziel, die Geistbindung, verwirklicht zu haben. Dazu passt die Zeile aus der vierten und letzten Strophe: Don´t turn away, you´ll create sorrow – wenn Du Dich (weiterhin) vom Geist abwendest, wirst Du (weiterhin) Leid und Karma schaffen.

Oh, sister, when I come to knock on your door
Don’t turn away, you’ll create sorrow
Time is an ocean but it ends at the shore
You may not see me tomorrow

Die vorletzte Zeile Time is an ocean but it ends at the shore hat offenbar viele Dylan-Fans beeindruckt; ein treffender Youtube-Kommentar (swami 7774) lautet: Ich würde alles dafür geben, eine solche Zeile schreiben zu können. Für mich deutet sie eine Befreiungsmöglichkeit an: Wer in der Zeit gefangen ist, ist vergänglich; die Seele kann sich von der vergänglichen Welt lösen und in die Ewigkeit (die keine Verlängerung der Zeit ins Unendliche bedeutet, sondern eine völlig andere Lebenssphäre), die Unsterblichkeit eingehen. Bildlicher gesprochen: Das Meer des irdischen Lebens mit all seinen Erfahrungsmöglichkeiten kann durchquert werden. Wer festen Boden unter den Füßen gewinnt und das Neue Land, die Welt der Neuen Seele betritt, verlässt das Reich der Vergänglichkeit – die Herrschaft der Zeit endet dort.

Ein weiterer Grund für den Literaturnobelpreis dürften die vielen Möglichkeiten sein, Bezüge zwischen Dylan-Songs herzustellen: so ist Dylans Werk ein verflochtenes Gesamtkunstwerk, weit mehr als eine Sammlung einzelner Songs. Die Zeile Time is an ocean but it ends at the shore assoziiere ich mit People don´t live or die, people just float aus dem Song Man in the Long Black Coat: Die Menschen kennen das „echte“ Leben nicht, sie kennen das Ufer des neuen Lebenszustandes nicht, sie treiben auf dem Meer der Zeit …

You may not see me tomorrow: Der Geist ist zwar ewig, doch die Zeit der irdischen Seele, sich mit ihm zu verbinden, ist begrenzt.

Zum Vorbereitungsprozess der Seele auf die Geistbindung siehe auch Vom Weben des Seelen-Kleides: Scarborough Fair.

Eine oder zwei Seelen?

Wer spirituelle Prozesse und spirituelle Schriften mit dem rationalen Verstand angeht, kann an vielen Stellen auf (vermeintliche) Widersprüche stoßen. Dazu zählt die Frage: Gibt es nun eine oder zwei Seelen? Viele werden an Goethes berühmte Worte aus dem Faust denken: „Zwei Seelen, wohnen, ach in meiner Brust“: eine irdische, vergängliche, und eine unsterblich-geistige Seele. Hier dagegen klingt es nach einer Seele, die sich zwischen dem irdischen und dem geistigen Leben entscheiden muss. (Karl May nannte die Sphären Ardistan und Dschinnistan.) Meines Erachtens ist es eine Frage des Blickwinkels, ein Sowohl – Als auch: wir tragen beide Anteile in uns, und wenn es gut steht, erfolgt eine allmähliche Reinigung, bis der spirituelle Seelen-Anteil so weit überwiegt, dass er die Leitung des Lebens übernehmen und sich schließlich mit dem Geist verbinden kann. Dazu passt die hermetische Schrift Ermahnung der Seele.

Bob Dylan: Desire (Album, mit Oh Sister)

Ermahnung der Seele: Hermes Trismegistos

Weitere Vorschläge für spirituelle Deutungen von Liebesliedern von Bob Dylan :

Zur Übersicht: Spirituelle Impulse in der Rock- und Pop-Musik (mit Ausflügen zum Hip-Hop)

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2 Antworten

  1. 10. Januar 2024

    […] im Beitrag zu Dylans Oh Sister beschrieben, geht es mir nicht um das Erforschen biografischer Zusammenhänge. So will ich nur kurz […]

  2. 11. Januar 2024

    […] eingespielt, die ihn auch auf der Rolling Thunder Revue Tour im Vorjahr begleitet hatten. Wie Oh Sister hat Dylan den Song Isis ebenfalls gemeinsam mit Jacques Levy […]

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